Gelsenkirchen. Täglich trifft sich der Gelsenkirchener Krisenstab wegen der Corona-Pandemie. Kämmerin Karin Welge über Krisenmanagement und Lockerungen.
Frau Welge, wie oft hatten Sie in diesen Corona-Zeiten den Gedanken: Hoffentlich wache ich gleich auf und das Ganze war nur ein Albtraum?
Welge: Nicht einmal. Ich bin jeden Tag, jede Stunde mit der Corona-Realität konfrontiert, da komme ich nicht zum Träumen, da habe ich ständig die Konsequenzen im Blick, mit denen wir im Krisenstab umgehen müssen.
Sie sind Leiterin des Krisenstabs in Gelsenkirchen. Wie oft trifft sich dieser Krisenstab und wer ist dabei?
Täglich. Und das heißt auch am Wochenende. Anders wäre das Pensum gar nicht zu bewältigen, denn Corona nimmt sich auch keine Auszeit.
Der Krisenstab besteht aus Menschen mit großer Expertise und Sachkenntnis. Daneben kennen wir alle unsere Stadt. Aus verschiedenen Perspektiven, weil wir alle aus anderen Kompetenzfeldern kommen. Das hilft, wenn es darum geht einzuschätzen, welche Maßnahmen implementiert werden können und auf welchem Wege. Deshalb hat der Stab ständige Mitglieder, die immer im Thema sind und solche, die je nach Ereignis hinzugezogen werden. Zum Stamm gehören Luidger Wolterhoff (Gesundheitsdezernent), Klaus Mika (Leiter Gesundheitsamt), Michael Axinger und Ansgar Stening (Feuerwehr), Hans-Joachim Olbering (Leiter Referat Sicherheit und Ordnung), Theo Wagner (Leiter Referat Personal und Organisation), Ina Geldermann (Leiterin Referat Soziales) und die Vertreter der städtischen Öffentlichkeitsarbeit.
Wie hat man sich solch eine Sitzung vorzustellen? Was besprechen Sie dort?
Die Grundlage für alles ist Aktualität. Neueste Infos kommen auf den Tisch, werden bewertet, die Maßnahmen für Gelsenkirchen daraus abgeleitet und dann müssen wir überlegen, wie diese Informationen den besten und einfachsten Weg zu unseren Bürgerinnen und Bürgern finden. Fallzahlen werden analysiert und mit der Bezirksregierung und dem Land ausgetauscht und wir stehen in ständigem Kontakt mit unseren Nachbarstädten im Ruhrgebiet. Das macht Sinn, uns trennen keine großen Distanzen. Der Bestand an Schutzmaterialien wird erhoben, Lieferketten organisiert und die infrastrukturellen Anforderungen für die adäquate Versorgung von Alten- und Pflegeheimen koordiniert. Natürlich sind auch neue gesetzliche Regelungen und deren Umsetzung Thema. Am Freitag etwa die geplanten Schulöffnungen in der kommenden Woche. Dies sind nur einige Beispiele.
Könnte der Krisenstab Verschärfungen für Gelsenkirchen beschließen, die über die Corona-Schutzverordnungen von Land und Bund hinausgehen? Etwa eine Ausgangssperre? Und wann würde er das tun?
Grundsätzlich ja. Aber es kommt darauf an, die Balance zu finden zwischen Notwendigkeit und gesetzlich garantierter Rechtsposition. Im schlimmsten Fall wäre es möglich, eine Ausgangssperre zu verhängen, wenn sich die Menschen gar nicht an die Verordnungen hielten und die Infektionszahlen explosionsartig anstiegen. Aber das ist zum Glück in Gelsenkirchen nicht der Fall. Ich favorisiere ohnehin einheitliche Lösungen, weil ich die Gefahr sehe, dass es sonst zu Verunsicherungen kommt. Was darf ich? Was darf ich nicht? Und wer will das dann noch kontrollieren?
Was darf ein Krisenstab beschließen? Und was braucht die Zustimmung etwa des Oberbürgermeisters oder des Rates?
Der Krisenstab übernimmt im Auftrag des Oberbürgermeisters weitgehende administrative und organisatorische Aufgaben. Damit hat der Krisenstab oberste Priorität. Krise heißt immer schnelles Handeln, auf einer fachlich versierten Entscheidungsgrundlage. Wir können nicht warten, wenn dringend Schutzausrüstungen für Krankenhäuser oder Intensivbetten bereit gestellt werden müssen oder Kapazitäten erschöpft sind.
Wie zufrieden sind Sie angesichts der Lage mit der Situation in Gelsenkirchen - mit den Zahlen, aber auch mit dem Verhalten der Menschen?
Mit Blick auf das gute Wetter, die Feiertage und die Ferien bin ich sehr stolz auf die Gelsenkirchener. Bei rund 265.000 Einwohnern ist die Zahl der Verstöße erfreulich klein. Trotz aller Einschränkungen und Probleme im Alltag verhalten sich die Menschen sehr diszipliniert und ausgesprochen solidarisch, insbesondere gegenüber Menschen, die zu den Risikogruppen gehören – etwa den Alten und Erkrankten. Bislang gibt es 265 Infizierte – das zeigt, wir haben die Infektionsketten derzeit im Griff. Allerdings haben wir leider auch schon neun Tote zu beklagen. Und natürlich darf man nicht vergessen, welche Belastungen diese einmalige Lage für die Menschen darstellen – in vieler Hinsicht: In sozialen, wirtschaftlichen, familiären oder kulturellen Zusammenhängen.
Was denken Sie über die angekündigten Lockerungen?
Es ist richtig, früh über eine vorsichtige Rückkehr zur Normalität nachzudenken, denn da wollen wir alle wieder hin. Das gibt uns Hoffnung. Genauso wichtig ist es aber, die Auswirkungen genau zu beobachten und in kleinen Schritten vorzugehen, um bei Bedarf leichter und punktgenauer eingreifen zu können. Denn Lockerungen müssen stets auch einfach umsetzbar sein. Und man darf bei all dem nicht vergessen: Jede Exit-Strategie birgt ein Risiko.
Wie groß ist die Herausforderung für die Stadt angesichts des Schulstarts in der kommenden Woche?
Das wird ein kleiner Kraftakt. Nach dem Kabinettsbeschluss müssen wir uns die Informationen und Anweisungen dazu genau anschauen, in Zusammenarbeit mit unseren Schulen und Verbänden abstimmen und dann entscheiden, wann und wie wir sie gemeinsam umsetzen können. Beispielsweise die Vorgaben zum Hygiene- und Infektionsschutz, die neuen Vorgaben an Klassengrößen, Transport der Schüler und vieles mehr. Das wird einige Tage in Anspruch nehmen
Sie sind nicht nur Leiterin des Krisenstabs, sondern auch Kämmerin der Stadt. Haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was Corona die Stadt Gelsenkirchen bis jetzt gekostet hat und insgesamt kosten könnte?
Es wäre reine Spekulation und wenig seriös jetzt eine Summe in den Raum zu stellen. Es ist aber klar, dass das Ausmaß der Kosten groß sein wird. Der Ausfall von Gewerbesteuereinnahmen ist da beispielsweise zu nennen. Oder die Folgekosten durch nicht ganz unwahrscheinliche Betriebsschließungen und Arbeitsplatzverluste. Auch die gesunkenen staatlichen Steuereinnahmen durch Corona. Das bedeutet ganz klar: die Kommunen werden erheblich weniger Geld zur Verfügung haben. Die OGS-Beiträge fallen weg, dafür steigen die Kosten für die ausgeweiteten Kontrollen des Kommunalen Ordnungsdienstes, für die Beschaffung von Beatmungsgeräten, Schutzmaterialien und Sozialaufwendungen. Es muss vom Land und Bund weitere Hilfen geben, gerade für strukturschwache Städte. Wir brauchen einen Nach-Corona-Rettungsschirm und auch ziemlich schnell die Übernahme der KDU-Lasten (Kosten der Unterkunft, Anm. d. Red.).
Gibt es auch Bereiche, in denen die Stadt zurzeit Geld spart?
Kaum. Viele Mitarbeiter der Verwaltung arbeiten beispielsweise derzeit im Home-Office. Das senkt die Betriebskosten etwas, der Anteil gegenüber den Mehraufwendungen oder Mindereinnahmen ist aber verschwindend gering.
Es sind noch etwa fünf Monate bis zur Kommunalwahl. Sollte an dem Termin festgehalten werden?
Für mich ein klares Ja. So zeitnah wie irgend möglich. Auch das wäre ein Stück zurück zur Normalität. Und vielleicht ist die Krise ein guter Ratgeber, wenn es um die Entscheidung in der Stimmkabine geht. Bürger und Bürgerinnen unserer Stadt werden in genauer Erinnerung haben, wer sich in der Krise bewiesen hat, für unsere Stadt da war. Und Verlässlichkeit und Verbindlichkeit ist, als Entscheidungsgrund, echter und nachvollziehbarer als ein Wahlplakat oder ein flotter Spruch oder eine bloße Forderung.
Was vermissen Sie persönlich zurzeit am meisten?
Umarmungen vermisse ich schon, die kleinen wichtigen vertrauten Gesten, die stark machen, unterstützen und wahrer Reichtum sind. Die den Menschen mehr geben als ein langer Monolog über Wertschätzung. Ich telefoniere zwar täglich mit meiner Mutter, sehe sie aber leider nicht, weil sie Videotelefonie nicht nutzen kann. Und ich kann mein Enkelkind nicht drücken. Es fehlt schlichtweg die Wärme und Geborgenheit des Alltags. Vermeintlich kleine Dinge, deren Bedeutung aber enorm ist. Vielleicht ist die Corona-Krise aber auch eine Chance, sich zurückzubesinnen auf das, was wirklich zählt im Leben.
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