Gelsenkirchen. Was kann die Ursache der Fehlbildungen an den Händen der drei Babys in Gelsenkirchen sein? Wir sprachen mit dem Humangenetiker Dr. UIrich Finckh.

Was sind mögliche Ursachen für die Fehlbildungen bei den drei in Buer geborenen sowie den in Köln und Frankreich zur Welt gekommenen Babys? Die WAZ fragte bei Experten nach: Dem Leiter der Kinder- und Jugendklinik am Bergmannsheil Buer, Dr. Gerrit Lautner, und dem Humangenetiker Dr. Ulrich Finckh aus Dortmund, der unter anderem mit dem Hygieneinstitut Gelsenkirchen zusammenarbeitet. Finckh stellte zunächst klar, dass eine Ursache für diese Fälle ohne Kenntnis und Inaugenscheinnahme der Betroffenen nicht benennbar ist.

Experten können andere Hinweise auf Abschnürungen sehen

„Um zu ergründen, ob es sich um genetisch bedingte Fehlbildungen, die Auswirkung schädlicher Substanzen, Medikamente oder Umweltfaktoren sind, handelt oder einfach um eine zufällige Häufung, müsste ein Humangenetiker die Familien und die Babys in seiner fachärztlichen Sprechstunde sehen, sprechen, untersuchen und eingehend befragen. Auch eine gute Fotodokumentation ist wichtig“, betont Finckh. Blutuntersuchungen allein und Ferndiagnosen reichten in diesen Fällen nicht aus. Im Idealfall würden alle betroffenen Familien in ein und derselben Praxis vorgestellt, um den direkten Vergleich zu ermöglichen.

Im St. Marien Hospital kamen drei Babys mit Fehlbildungen an der Hand zur Welt. In Dorsten, Datteln und Köln gab es weitere Fälle.
Im St. Marien Hospital kamen drei Babys mit Fehlbildungen an der Hand zur Welt. In Dorsten, Datteln und Köln gab es weitere Fälle. © dpa

Bei allen drei Gelsenkirchener Fällen liegen asymmetrische Fehlbildungen vor, also an nur einer Körperseite. Das kann ein Hinweis auf Abschnürungen durch sogenannte Amnionbänder sein. Diese können sich im Laufe der Schwangerschaft in der Fruchthöhle bilden. „Auch da ist es wichtig, das Kind in Augenschein zu nehmen. Häufig liegen Anzeichen für weitere Abschnürungen vor, die sich nicht so dramatisch ausgewirkt haben. Das kann oft nur ein Fachmann erkennen,“ erläutert der Privatdozent Finckh im WAZ-Gespräch.

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Genetiker hält Umwelteinwirkung für eher unwahrscheinlich

„Bei Hinweis auf zeitliche oder geografische Häufung angeborener Anomalien müssten bei den betroffenen Familien eine sorgfältige Erhebung der Familien- und Schwangerschaft-Vorgeschichte erfolgen. Dabei wäre besonders auf Medikamenteneinnahme, Nahrungsgewohnheiten,Nahrungsergänzungsmittel und ähnliches zu achten. Auf diese Weise konnte Prof Lenz in den fünfziger Jahres des letzten Jahrhundert Contergan als Ursache von fehlentwickelte Gliedmaßen bei Neugeborenen identifizieren,“ so Finckh.

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Umweltgifte im Umfeld – was bei der Häufung im Stadtnorden in der Nähe der Kraftwerke und Chemie nahe liegen könnte – hält Finckh als Ursache für derartige Fehlbildungen für eher unwahrscheinlich. Er weist allerdings daraufhin, dass er die Betroffenen und deren Umfeld nicht kenne und daher keine Bewertung abgeben könne. Ähnliches gelte in solchen Fällen für Medikamente als Ursache. Auf die Frage, ob er generell heute noch medikamentenbedingte Fehlentwicklungen wie einst beim Contergan-Fall für denkbar hält, lautet Finckhs Antwort klar „ja“. „Wir sind ständig konfrontiert mit Medikamenten, die nur in Kleinst-Studien erprobt wurden und dann für den breiten Markt zugelassen werden. Das ist praktisch wie bei einem Feldversuch.“

Baby in Dorsten ebenfalls betroffen

Am Freitag meldeten sich bei der WAZ mehrere Eltern von Babys, die in jüngster Vergangenheit mit Fehlbildungen im Bereich der Hände zur Welt gekommen sind (siehe auch Berichterstattung im überregionalen Teil der WAZ).

Darunter war auch eine Mutter aus Dorsten, die in einem dortigen Krankenhaus im Frühling ihren Sohn zur Welt brachte. Auch bei ihm ist ein Händchen nicht voll entwickelt: Die Finger an einer Hand fehlen.

Auch ihr hatte die , dass sie eine solche Fehlbildung in den zehn Jahren, in denen sie in der Geburtshilfe arbeitet, noch nicht gesehen habe.

Den betroffenen Eltern rät Finckh, sich und ihr Baby in einer humangenetischen Sprechstunde vorzustellen. Zum einen, falls ein Wunsch nach weiteren Kindern bestehe, aber auch, um für die geborenen Kinder und deren Nachkommen mehr diagnostische Sicherheit zu erlangen. An Krankenhäusern werden Humangenetiker in der Regel – und auch in Gelsenkirchen – nicht vorgehalten.

Auch Infektionen können Auslöser sein

Dr. Gerrit Lautner, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendklinik am Bergmannsheil-Buer, hält einen Zusammenhang der drei Fälle für möglich.
Dr. Gerrit Lautner, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendklinik am Bergmannsheil-Buer, hält einen Zusammenhang der drei Fälle für möglich. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Dr. Gerrit Lautner, der Leiter der Kinder- und Jugendklinik am Bergmannsheil-Buer, schließt eine umweltbedingte Ursache nicht aus, betont allerdings, dass auch die anderen genannten Risikofaktoren wie Medikamente oder Infektionen Auslöser sein könnten. Lautner erinnert in dem Zusammenhang auch an einen Fall mit einem prominenten Opfer und ganz anderer Ursache: Der Musiker Stevie Wonder hatte als Frühchen viel medizinischen Sauerstoff bekommen, den man damals gerade als gutes Mittel, um Frühchen zu stärken, entdeckt hatte. Erst später stellte man den Zusammenhang her, dass viele dieser Babys, die (zuviel) Sauerstoff bekommen hatten, später erblindeten.

Einen Zusammenhang zwischen den Fällen in Buer – ohne Zutun der Klinik! – hält er für sehr gut möglich. Gerade um dramatische Fälle wie den von Contergan zu verhindern sei es wichtig zu ermitteln, ob es einen gemeinsamen Risikofaktor bei den Müttern der drei Kinder gibt. Denn: „Ich arbeite seit 1998 als Kinderarzt. Seitdem habe ich vielleicht zehn Fälle von Fehlbildungen an Händen und Füßen gesehen. Das ist hier schon auffällig,“ gibt er zu bedenken.

Mehrere Fälle sind aus Frankreich bekannt

In Frankreich häuften sich in den vergangenen Jahren ähnliche Fälle von Babys, die ohne Hand oder Arm geboren wurden. Darauf weist der Kölner Express in seinem Bericht über die drei Fälle in Buer hin.

Spiegel online listet mindestens 25 Neugeborene mit entsprechender Behinderung auf. 18 von ihnen seien zwischen 2000 und 2014 im Departement Ain im Osten des Landes geboren worden. Allen Müttern sei gemeinsam, dass sie auf dem Land in der Nähe von Feldern lebten, auf denen Getreide und Sonnenblumen angebaut würden. Deshalb erwog das französische Gesundheitsamt auch Umweltfaktoren als mögliche Ursache.

In den 1950er/60er Jahren kamen bis zu 12.000 Kinder weltweit mit schweren Fehlbildungen auf die Welt, deren Mütter ein spezielles Schlafmittel – bekannt unter dem Markennamen Contergan und Softenon – eingenommen hatten.