Der Fall Walter Lübcke, ein Mordopfer rechtsextremer Gewalt, schlägt hohe Wellen. Sie sind auch in Gelsenkirchen zu spüren. Ein Kommentar.
Es hat sich etwas verändert. Bei der Bundestagswahl 2017 und auch bei der Europawahl im Mai wählten 17 Prozent der Gelsenkirchener die AfD: eine Partei, zu der Mitglieder zählen, die den Holocaust verharmlosen und freundschaftliche Kontakte in die gewaltbereite rechte Szene pflegen.
Im September 2018 marschierten 300 Rechte durch die Innenstadt und demonstrierten unverhohlen ihre rassistische Gesinnung. Bei unseren Gesprächen mit Menschen aus allen Bereichen der Stadtgesellschaft äußerten viele, in den sozialen Netzwerken schon beschimpft worden zu sein. Und auch unser Oberbürgermeister wurde verbal schon mehrfach von Rechten bedroht. Rechte Hetze im Netz kennen auch wir als Redaktion. Seit Jahren löschen wir unter Online-Artikeln immer wieder fremdenfeindliche, menschenverachtende Kommentare. Erst vor ein paar Tagen erst haben wir diskutiert, ob wir eine Geschichte über jüdische Bräuche auf Facebook überhaupt posten sollen — weil hässliche Reaktionen nach unseren Erfahrungen vorprogrammiert sind.
So weit sind wir also schon. Die Verschiebung von Gewohnheiten, auch die sprachliche Verschiebung hin zu totalitären Paradigmen verläuft schleichend. Es scheint, als hätten wir uns irgendwie damit arrangiert, dass ein paar Verirrte unsere freiheitliche, friedliche Gesellschaftsordnung eben ablehnen. Auch in der Endphase der Weimarer Republik veränderten sich die Vorzeichen nicht von heute auf morgen. Erst erklangen neue Töne in der Presse. Dann verschoben sich Mehrheiten im Parlament. Zum Schluss wurden Fensterscheiben eingeworfen und Menschen auf der Straße verprügelt. Der Tiefpunkt: Hitlers Machtergreifung. Der Landrat Walter Lübcke wurde in Kassel von einem Mitglied der Neonazi-Szene erschossen. Seit Jahren hatte er sich immer wieder deutlich ausgesprochen gegen rechte Gruppierungen in seiner Stadt.
Auch Frank Baranowski bezieht klar Stellung. So mutig sind nicht alle Bürgermeister im Ruhrgebiet — aber sie sollten es sein. Denn es hat sich etwas verändert. Wenn Politiker wegen ihrer demokratischen Gesinnung um ihr Leben fürchten müssen, ist es höchste Zeit, dass wir alle laut Nein sagen zu Antidemokraten. Jeder von uns jeden Tag. Denn jetzt sind wir immer noch mehr.