Gelsenkirchen. Gerichtsdirektor Dr. Mathias Kirsten und Richter Dr. Andreas Rediger über Clans, Gewalt, Personalnot und Schnellverfahren in Gelsenkirchen.

Gelsenkirchen ist bunter denn je. Menschen aus über 100 Ländern leben überwiegend friedlich miteinander. Es fällt auf, dass mit dem Bevölkerungswachstum auch ein Anstieg bestimmter Straftaten zu verzeichnen ist. Das Rechtsbewusstsein scheint vor allem bei so genannten Clans, deren Mitgliederzahl das Innenministerium mit 570 für Gelsenkirchen angibt, getrübt. Drei Großfamilien fallen den Gerichten hier besonders auf. Viele Mitglieder, die mittlerweile einen deutschen Pass besitzen, stammen ursprünglich aus dem arabischen Raum. Die Amtsrichterinnen und Richter müssen sich mehr und mehr mit Vorwürfen beschäftigen, bei denen immer häufiger Täter mit Migrationshintergrund auf der Anklagebank sitzen.

Listet man Anklagen über einen Zeitraum von vier Wochen auf, wird in den Gerichten hier in erster Linie über Vorwürfe von Körperverletzung, Betrug (oft auch Leistungsmissbrauch), Diebstahl und Drogenmissbrauch verhandelt. Vor allem bei Körperverletzung stehen Angeklagte mit Migrationshintergrund überproportional zu ihrem Bevölkerungsanteil vor Gericht. Innerhalb von vier Wochen waren 50 Fälle von Körperverletzung angeklagt. 34 Beschuldigte hatten einen Migrationshintergrund.

Amtsrichter Dr. Andreas Rediger glaubt, „dass viele dieser Angeklagten in einer Parallelwelt leben, eher handfeste Lösungen suchen und unser Rechtssystem nicht anerkennen.“ Dabei, so meint Rediger, spiele es ihnen sogar in die Hände. Denn auch die Rechte der Beschuldigten würden sehr hoch gehalten.

7000 Verfahren pro Jahr

Wie schwer es ist, zu einem Urteil zu kommen, erlebt der Richter eher häufiger als seltener. Denn oft fehlten Belastungszeugen. Manche erkennen nicht selten den Angeklagten plötzlich nicht mehr, sagen nicht aus, weil sie eingeschüchtert worden sind. Häufig ist der Vorsitzende Richter überzeugt von der Schuld des Angeklagten, doch das Bauchgefühl, so weiß er, reiche eben nicht. So bleibt am Ende ein Freispruch.

Der Wissenschaftspark im Vordergrund und dahinter das neu errichtete Justizzentrum in Gelsenkirchen.
Der Wissenschaftspark im Vordergrund und dahinter das neu errichtete Justizzentrum in Gelsenkirchen. © Blossey

Auch wenn es mitunter unbefriedigend sei, hält Rediger das System für gut und richtig. Organisierte Strukturen stellen die Richter allerdings auch bei deutschen Angeklagten fest, die hier aufgewachsen sind.

In 40 Betrugsfällen hatte die Hälfte der Angeklagten ebenso einen Migrationshintergrund. Ähnlich sieht das Verhältnis beim Vorwurf des Diebstahls (37) aus. 320 Fälle waren über alle Delikte verteilt innerhalb des Vier-Wochen-Zeitraums angeklagt. Unter anderem ging es um Raub (7), Fahren ohne Führerschein (20) Widerstand (11), Fahrerflucht (12) oder Gefährdung des Straßenverkehrs (11).

Richter Dr. Andreas Rediger.
Richter Dr. Andreas Rediger. © Michael Korte

Von Resignation sind die Richter trotzdem weit entfernt. „Wir sind Profis“, sagt Direktor Mathias Kirsten. „Wir haben nur das eine Ziel, dem Recht zum Sieg zu verhelfen.“

Bis dahin ist es ein langer Weg. Gut 7000 Einzelrichterverfahren sind pro Jahr zu bewältigen. „Masse und Länge der Verfahren haben exorbitant zugenommen“, sagt Mathias Kirsten.

Bis zum Urteil vergeht bis zu ein Jahr

Zunehmend müsse über schwerwiegendere Straftaten ein Urteil gefällt werden, auch habe die Zahl der Angeklagten innerhalb eines Verfahrens stark zugenommen. Von der Anzeige bis zum Urteil – sofern es nicht eingestellt werden muss – vergeht häufig ein halbes oder ein ganzes Jahr.

Erschwerend: Richter sind Mangelware und so klafft zwischen dem Soll und Ist selbst an einem kleinen Gerichtsstandort wie Gelsenkirchen eine Lücke. 37 Richterstellen sind der Behörde zugewiesen, nur 31,5 besetzt. Laut Deutschem Richterbund fehlen bundesweit 2000 Richter und Staatsanwälte. Das zusammen stellt die Richter vor eine Mammutaufgabe – Rediger und Kirsten haben auch hier die Zahlen bemüht. Statistisch gesehen dürfte ein Einzelrichter – so die Vorgabe vom Ministerium (auf Grundlage des Personalbedarfsberechnungssystems) – vom Aufschlagen der Akte bis zum Urteil 157 Minuten verwenden, unabhängig von der Anzahl der Sitzungstage und der Zeugen. Das aber kann man nur schaffen, wenn es sich um einfache Verfahren handelt. Das Arbeitspensum der Richter liegt bei „deutlich über 117 Prozent“. Ein Marathon läuft sich da augenscheinlich leichter.

Duisburger Modell mit Vorbildcharakter

Mit Blick auf Clankriminalität sehen Kirsten und Rediger Gelsenkirchen „davon nicht so stark betroffen wie vergleichsweise Duisburg“. Mit Interesse verfolgen sie aber das dortige Modellprojekt, das es seit Jahresbeginn auch im benachbarten Essen gibt. Es könnte ihrer Ansicht nach ein Ansatz sein und helfen, derartige Clanstrukturen in anderen Teilen des Reviers aufzudecken und den kriminellen Sumpf auszutrocknen.

In Duisburg sind seit Juni 2018 zwei eigens abgestellte Ankläger, Staatsanwälte, im Einsatz. Dank ihrer Arbeit konnten nach Angaben des Justizministeriums bereits rund 260 Ermittlungsverfahren eingeleitet werden. Sie waren auch an gemeinsamen Razzien von Polizei und Ordnungsbehörden beteiligt. Die dem Bereich der Clankriminalität zugeordneten Straftaten reichen von Drogenhandel über Erpressung und Raub bis zu schwerer Gewalt und Geldwäsche.

Amtsgerichtsdirektor Dr. Mathias Kirsten.
Amtsgerichtsdirektor Dr. Mathias Kirsten. © Michael Korte

Als effektives Werkzeug zur Bekämpfung von Kriminalität hat sich nach Meinung von Amtsgerichtsdirektor Mathias Kirsten und Amtsrichter Andreas Rediger das beschleunigte Verfahren erwiesen, seit Februar 2016 in Gelsenkirchen in der Anwendung und von Behörden in Essen, Marl und Recklinghausen übernommen.

Dieses Verfahren kommt vor allem bei geringfügigen Delikten mit klarer Beweislage infrage. Innerhalb weniger Tage, mitunter in 24 Stunden, wird ein Urteil gesprochen: bei Ladendiebstählen, Fahren ohne Führerschein, Sachbeschädigung, Alkohol und Drogen am Steuer beispielsweise. Die Schnellverfahren sollen helfen, den Verfahrensstau an Gerichten abzubauen. Sie betreffen vor allem reisende Täter von mindestens 21 Jahren, ohne festen oder mit oft wechselndem Wohnsitz.

Seit Einführung hat es 636 dieser beschleunigten Verfahren im Bereich der Staatsanwaltschaft Essen gegeben. In Gelsenkirchen beläuft sich ihre Zahl auf 45 solcher Verfahren, in Recklinghausen 37 und in Essen 152 im vergangenen Jahr.

„Wir wollen eine Verurteilung haben, die in den Papieren steht“, sagen Rediger und Kirsten. Also im Vorstrafenregister. Das habe abschreckenden Charakter. Effekt: Beschuldigte stehen nicht mehr zum zigsten Mal vor dem Richter.

Devise: Folgen müssen spürbar sein

Nunmehr ist es möglich, dass beim ersten Mal eine Geld- oder Freiheitsstrafe mit Bewährung und im Wiederholungsfall eine Haftstrafe bis maximal ein Jahr verhängt wird. Redigers Devise dabei: „Urteile nur auf dem Papier sind schlechte Urteile – die Folgen einer Tat müssen spürbar sein.“ Sei es im Geldbeutel, sei es durch auferlegte Arbeit zum Wohle anderer – oder eben durch eine Zeit zum Nachdenken hinter Schloss und Riegel.

„Durch diese Schnellverfahren sind wir ein wenig gerechter geworden – vorher konnte doch kaum kein Bürger verstehen, warum solche Wiederholungstäter immer noch auf freiem Fuß waren“, stellt Amtsgerichtsdirektor Mathias Kirsten zufrieden fest..

>> Zahlen, Daten, Fakten

Seit dem 15. Juni 2018 sind im Raum Duisburg zwei „Staatsanwälte vor Ort“ im Einsatz, die eng in die Zusammenarbeit mit Polizei, Zoll, Finanz- und Ordnungsbehörden eingebunden sind.

Diese Staatsanwälte haben seitdem knapp 260 Ermittlungsverfahren eingeleitet, Vermögen in Höhe von 655.000 Euro gesichert, 19 Haftbefehle erlassen.

Ein Einzelrichter hat in 35 Sitzungswochen jährlich etwa 700 Verfahren zu leiten. Die Strafgewalt des Einzelrichters liegt bei zwei Jahren. Das Schöffengericht kann einen Angeklagten zu maximal vier Jahren verurteilen.

Bußgeldverfahren sollen Richter bis zum Urteil in 30 Minuten erledigt haben. 157 Minuten gelten als Basiszahl für einen Einzelrichter, unabhängig von der Anzahl der Angeklagten, von Sitzungstagen oder den benötigten Zeugen. Beim Schöffengericht beträgt die Basiszahl 423 Minuten.

Bis zu einer Woche können Täter vor Beginn des Schnellverfahrens festgesetzt werden.