Gelsenkirchen. . Von 36.000 erwerbsfähigen Leistungsbeziehern wurden dieses Jahr 900 mit Sanktionen belegt. Zehn Prozent wollen partout keine Arbeit annehmen.

Hartz IV ist in aller Munde – trotz einer Beschäftigungsquote auf Rekordniveau und anhaltender Konjunktur. 13 Jahre nach der Einführung ist eine Debatte darüber entbrannt, die gesetzlichen Regelungen zum Arbeitslosengeld II zu reformieren, sie etwa durch ein Grundeinkommen zu ersetzen oder gar ganz abzuschaffen.

Insbesondere um die Sanktionen wird gestritten. Die Meinungen über den Umgang mit repressiven Maßnahmen reichen von menschenunwürdig bis zu deutlich verschärfen. Realityformate zumeist privater Fernsehsender haben dabei nicht unerheblich dazu beigetragen, ein Zerrbild zu zeichnen. Sie lieferten reichlich Anschauungsmaterial für die Position der Hardliner. Sachliche und weniger voyeuristisch angelegte TV-Beiträge gab es zwar auch, allerdings verschwanden sie aufgrund geringer Einschaltquoten und Marktanteile praktisch in der Versenkung.

Zahlen widerlegen Klischeebild

Grund für die WAZ-Redaktion jemanden zu fragen, der in dieser Stadt Einblick in das Thema hat wie kaum ein anderer: Dirk Sußmann, Geschäftsführer des Integrationscenters für Arbeit (IAG). Er hält den Ansatz von „Fördern und Fordern“ bei Hartz IV grundsätzlich für richtig, sieht aber zugleich Verbesserungsbedarf.

Sußmann ärgert sich über die Botschaft, die die reißerischen TV-Sendungen in die breite Öffentlichkeit tragen: dass es sich der Großteil der Leistungsbezieher auf Kosten von Vater Staat gut gehen lässt.

Die rote Laterne tragende Stadt

Gerade in Gelsenkirchen, gern als rote Laterne tragende Stadt in vielerlei Hinsicht an den Pranger gestellt, bei Arbeitslosigkeit, Krankentagen und so fort, passiere so viel Gutes, sagt Sußmann. Erst recht, was das Thema Hartz IV anbelangt. Sein Credo: „Wir haben hier so viele Menschen, die arbeiten wollen, die sich engagieren und viel dafür tun, wieder selbstbestimmt zu leben.“

Die Zahlen für Gelsenkirchen zum Thema Hartz IV-Sanktionen.
Die Zahlen für Gelsenkirchen zum Thema Hartz IV-Sanktionen. © Miriam Fischer

Das ist kein verklärter Blick eines leitenden Angestellten, der sein Haus ins rechte Licht stellen will, sondern der Eindruck lässt sich anhand aktueller Bestandszahlen belegen: Gelsenkirchen kommt auf 36.000 erwerbsfähige Leistungsbezieher, die Sanktionierungsquote beträgt 2,5 Prozent. Das entspricht 900 Menschen.Damit liegt die Stadt noch unter dem Landeswert von 2,8 Prozent.

Hartnäckige Verweigerer bleiben überschaubar

Natürlich, es gibt und es wird auch immer jene geben, die partout nicht arbeiten wollen, das ist aber in Gelsenkirchen nicht anders als in Städten und Kreisen mit Vollbeschäftigung wie Augsburg (Arbeitslosenquote 1,6 bis 3,0 Prozent).

Unter den mit Kürzungen belegten Empfängern ist der Anteil hartnäckigerer Verweigerer in Gelsenkirchen überschaubar klein. Zehn Prozent, also 90 Personen, müssen Einbußen von 30 Prozent hinnehmen, weil sich „wiederholt respektive stetig einer Eingliederung, etwa der Annahme oder Fortsetzung einer Arbeit oder Fördermaßnahme, verweigern“.

Abzug von Leistungen droht

Gleiches gilt für weitere 90 Hartz IV-Empfänger (zehn Prozent). Sie haben „beispielsweise empfohlene Fort- und Weiterbildungen nicht angetreten oder abgebrochen“. Die große Mehrheit, 80 Prozent oder 720 Menschen, sind mit einem Abzug von zehn Prozent ihrer Leistungen bestraft worden, weil sie der Einladung zu einem Termin (Meldeversäumnis) nicht gefolgt sind.

Dirk Sußmann, Geschäftsführer des Integrationscenters für Arbeit Gelsenkirchen.
Dirk Sußmann, Geschäftsführer des Integrationscenters für Arbeit Gelsenkirchen. © Oliver Mengedoht

Die Sanktionen gelten jeweils für drei Monate. Betroffene sind allerdings nur erwerbsfähige Leistungsempfänger, Kranke oder Alleinerzeihende beispielsweise, sind davon ausgenommen.

Das Bemühen um Arbeit in dieser Stadtgesellschaft findet sich auch in anderen Zahlen wieder. Dirk Sußmann: „2018 werden hier 7500 Menschen einen sozialversicherungspflichtigen Job annehmen.“ 7400 waren es ein Jahr zuvor. Dazu kommen 6000 Menschen, die mit Fördergeldern des IAG eine Aus- oder Fortbildung absolvieren sowie 1500 Menschen in Integrationskursen (Flüchtlinge, Zuwanderer aus EU-Oststaaten).

Fördern und Fordern

Sußmann schließt aus all dem, „dass Sanktionen, das Fördern und Fordern, prinzipiell richtig sind“, der IAG-Chef sieht jedoch auch einiges an Verbesserungsbedarf. Etwa bei der Diskrepanz zwischen der Beurteilung eines Jugendlichen und Erwachsenen in Sachen Hartz-IV-Sanktionen. Denn die Jüngeren werden sofort gemaßregelt. Ihnen kann man beim ersten Verstoß die Regelleistung komplett streichen – die Miete wird allerdings weiterhin übernommen.

Einem Wegfall des Hartz-IV-System sieht der IAG-Geschäftsführer skeptisch entgegen, denn Dirk Sußmann wie auch seine Kollegen „haben schon viele Menschen hier im Center erlebt, die nach einer Alternative fragen, wenn es Hartz IV nicht mehr gibt“. Hoffnungen setzt er daher in den sozialen Arbeitsmarkt. Der startet zu Jahresbeginn mit zunächst 400 Arbeitsplätzen und soll sukzessive ausgebaut werden. Gute Nachrichten für eine Stadt, die mit großen Anstrengungen dem anhaftendem Image zu entkommen versucht.

>> Sechs Millionen Menschen leben von Hartz-IV

Deutschlandweit gibt es etwa rund sechs Millionen Hartz IV-Empfänger. Sanktioniert wurden 131.000 Leistungsbezieher. Das sind 2,18 Prozent.

Der Großteil (77 Prozent) wurde wegen Meldeversäumnissen mit zehn Prozent Abzug bestraft. Die Quoten für abgebrochene Arbeits- oder Fördermaßnahmen bzw. für die Verweigerung der Arbeitsaufnahme im Bund folgen dem Gelsenkirchener Trend.