Gelsenkirchen. . Der Gelsenkirchener SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Töns spricht im WAZ-Interview über die Studie zur Lebensqualität und seine Meinung zur AfD.

Viele Jahre war er an der Seite von Heike Gebhard für die SPD im Landtag: Markus Töns. 2017 wechselte er nach Berlin in den Bundestag. WAZ-Redaktionsleiter Steffen Gaux traf den 54-Jährigen zum Interview.

Vor einem Jahr wurde ein neuer Bundestag gewählt. Nach den geplatzten Jamaika-Verhandlungen bekamen die Bundesbürger die nächste GroKo. Die SPD stand mit Entscheidung fast vor einer Zerreißprobe. Und heute? War es richtig, erneut in die Koalition mit der Union zu gehen?

Markus Töns:Bis jetzt ist es immer noch die richtige Entscheidung. Allerdings gibt es bei mindestens einem der beiden Koalitionspartner erhebliche Zweifel ob der Ernsthaftigkeit des regieren Wollens und überhaupt den Koalitionsvertrag gelesen zu haben. Die Art und Weise, wie die CSU seit Monaten die Arbeit torpediert, ist schon bemerkenswert – und das kann dann natürlich irgendwann auch an eine Grenze führen, die für Sozialdemokraten nicht mehr hinnehmbar ist.

Wie nah an der Grenze war der Fall Maaßen?

Markus Töns macht sich trotz schlechter Umfragewerte keine Sorgen um die Zukunft der SPD.
Markus Töns macht sich trotz schlechter Umfragewerte keine Sorgen um die Zukunft der SPD. © Olaf Ziegler

Spätestens nach der Reihe von Verfehlungen von Herrn Maaßen wäre klar gewesen, dass der Dienstherr ihn zu entlassen hat. Jetzt wurde er entlassen – aber auf Geheiß des Kanzleramts. Meine Auffassung ist, dass der Innenminister hier nicht aus inhaltlicher Begründung, sondern aus reiner Provokation gegenüber der Kanzlerin und dem Koalitionspartner SPD an ihm festhielt. Und diejenigen bei uns, die Zweifel hatten, in eine neue Große Koalition zu gehen, die fühlen sich durch solche Spielchen bestätigt.

Machen Sie sich angesichts der Umfragewerte Sorgen um die Zukunft der SPD?

Die Umfragewerte begeistern mich nicht, aber Sorgen um die Zukunft mache ich mir nicht. Alte Regel: Solange man bekämpft wird, wird man gebraucht. Wir haben die richtigen Ansätze mit dem sozialen Arbeitsmarkt, mit dem Gute-Kita-Gesetz, wir investieren in den Mieterschutz – ich kann mir im Bundestag derzeit keine andere Partei vorstellen, die sich darum kümmert.

Was halten Sie von der linken Sammelbewegung „Aufstehen“?

Nix. Es gibt eine linke Sammelbewegung, das ist die SPD.

Bevor Sie vor einem Jahr Mitglied des Bundestags geworden sind, gehörten Sie viele Jahre dem Landtag an. Was unterscheidet die beiden Aufgaben?

Was sich ganz deutlich unterscheidet, sind die intensiven Wochen. Während man aus Düsseldorf immer wieder zurückgekehrt ist und auch in der Woche abends Termine im Wahlkreis gemacht hat, ist man jetzt wochenweise nur mit Bundestag und Bundesthemen sowie den Ausschüssen beschäftigt. Es ist enger getaktet, intensiver und dadurch ein ganz anderes Arbeiten.

Mit dem Wechsel hat sich ja auch Ihre Pendelstrecke verändert. Sie pendeln jetzt zwischen Gelsenkirchen und Berlin. Wo lebt es sich besser?

In Gelsenkirchen. In Berlin arbeite ich. Da habe ich nur eine kleine Wohnung zum Schlafen. In Gelsenkirchen lebe ich. Da gehe ich zum Beispiel gerne auf die beiden Feierabendmärkte. Ich genieße es auch, mich dann unter die Menschen zu mischen. Es ist halt meine Stadt. Die Stadt mit meinem Fußballverein, mit meinen Freunden.

Sie haben jetzt ein paar Dinge aufgezählt, die diese Stadt für Sie lebenswert machen. Genau das hat eine Studie der Stadt eigentlich abgesprochen. In der oft erwähnten Prognos-Studie belegte Gelsenkirchen den letzten Platz. Ungerecht?

Das Ergebnis der Studie ist überhaupt nicht gerechtfertigt. Es sind merkwürdige Zusammenhänge. Und ich glaube, es wird immer verkannt, dass man in dieser Stadt, wie überall natürlich schöne und auch hässliche Ecken hat. Ich habe auch mal drei Jahre in Münster gelebt, einer Stadt, die von sich behauptet, eine der liebens- und lebenswertesten Städte Deutschlands zu sein – es gib da ein paar Stadtteile, da möchte ich nicht wohnen. Das muss man immer relativieren. Gelsenkirchen ist schöner als sein Ruf. Ich finde die Aktion #401GE von Olivier Kruschinski richtig gut. Ich habe mir auch so ein T-Shirt besorgt.

Gelsenkirchen hat aber unbestritten auch Probleme. Was ist Ihrer Meinung nach das größte?

Es gibt drei wirklich große Probleme. Das eine ist das Imageproblem. Jeder glaubt ja, dass es bei uns dreckig, nicht schön und schlecht zu leben ist. Das kriegen wir nur über Jahre hin korrigiert. Wenn überhaupt – denn das hat sich so festgefressen in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. Das zweite Problem ist die Langzeitarbeitslosigkeit, die sich hier verfestigt hat. Die Menschen haben dadurch kaum noch eine Chance auf den ersten Arbeitsmarkt. Das beeinträchtigt auch die Chancen der Kinder. Das aufzubrechen, ist eine große Aufgabe. Deshalb finde ich den sozialen Arbeitsmarkt auch so wichtig. Der Gelsenkirchener Appell hat da wichtige Hinweise gegeben und die werden jetzt sehr wahrscheinlich auch in einen Gesetzestext gegossen. Das dritte Problem: Wir haben enormen Druck bei der Zuwanderung – auf der einen Seite haben wir die Geflüchteten, auf der anderen die Zugewanderten aus Südosteuropa. Das merkt man, weil der Integrationsdruck doppelt so hoch ist wie in anderen Städten.

OB Baranowski sagte kürzlich in einem WAZ-Interview, dass in Berlin kaum jemand auf das Thema Zuwanderung aus Südosteuropa schaut, weil es nur 10 bis 20 Städte betrifft. Sie sitzen im Ausschuss für Europa-Angelegenheiten. Wie sehen Sie das?

Er hat recht, das ist schwierig. Das gilt übrigens auch für das Thema Langzeitarbeitslosigkeit. Es ist so schwierig, weil viele Kollegen im Bundestag das Problem überhaupt nicht kennen. In deren Wahlkreisen gibt es das nicht. Hier gibt’s das aber. Deshalb haben die 17 direkt gewählten SPD-Bundestagsabgeordneten aus dem Ruhrgebiet dafür gesorgt, dass wir uns im Bundeshaushalt ganz speziell mit dieser Frage beschäftigen. Wir sind dabei zu klären, wie viele Mittel jetzt in diese Hot Spots deutschlandweit fließen, um die Kommunen bei dem Integrationsdruck zu entlasten. Es kann ja nicht sein, dass wir die alleine lassen. Die überwiegende Zahl der Zuwanderer auch aus Südosteuropa sind bundesweit gut integrierbar in den Arbeitsmarkt. Aber die, die in Städte wie Duisburg, Dortmund und Gelsenkirchen kommen, die sind schwer zu integrieren. Das muss man auch auf Bundesebene verstehen. Aber das ist Bohren dicker Bretter.

Es liegt ja mit Sicherheit auch an diesem Thema, dass die AfD in Gelsenkirchen so stark ist.

Es gibt aus meiner Sicht zwei große Gründe. Der eine ist natürlich der hohe Migrationsdruck, den wir haben durch Flüchtlinge und Zuwanderung. Der zweite Grund: Abstiegsängste, die es immer gibt. Beidem muss man entgegenwirken. Da muss man den Menschen auch viel erklären, das ist aber schwierig. Der einfache Satz „Die müssen weg“ kann jedenfalls nicht die Lösung sein.

Ärgert Sie das als Politiker, wenn solche einfachen Parolen bei manchen Menschen besser ankommen als komplizierte Lösungen?

Markus Töns hält die AfD für gefährlich.
Markus Töns hält die AfD für gefährlich. © Olaf Ziegler

Mich ärgert, wenn solche Parteien, die offensichtlich zum rechtsextremen Rand gehören, mit einfachen Erklärungen versuchen, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Mir ist aber in vielen Gesprächen aufgefallen, dass wenn man die Chance hat, mit den Menschen zu reden, man sie auch überzeugen kann – wenn man ihnen erklärt: „Ich versteh‘ das. Ich versuche aber eine Lösung, die machbar ist, und nicht eine, die euch Sand in die Augen streut.“

Halten Sie die AfD für gefährlich?

Ja, definitiv. Ich glaube, dass die Partei dieses Potenzial von 13, 14 Prozent deutschlandweit hat und dass sich das verfestigt. Es wird die Arbeit in den Parlamenten nicht einfacher machen. Ich halte sie deshalb für gefährlich, weil sie sich nicht mehr auf dem Boden der Verfassung befindet.

Wenn Sie an die Bilder aus Chemnitz denken: Haben Sie Angst, dass solche Szenen sich auch auf Gelsenkirchens Straßen abspielen könnten?

Nein, ich glaube nicht. Weil wir um die Zusammenhänge wissen, weil wir hier eine starke Stadtgesellschaft haben und weil wir seit Jahrzehnten um die Problematik des Zusammenlebens von unterschiedlichen Menschen aus unterschiedlichen Ländern wissen. Das ist ein Erfahrungswert, den wir haben. So extrem wie in Chemnitz würde das nicht passieren. Es würde auch von der Stadtgesellschaft nicht akzeptiert. Man muss auch wissen: In Chemnitz waren zwar einige Bürger dabei, aber es waren durchweg eigentlich angekarrte Rechte. Ich finde, Trauer und Betroffenheit nach einer Gewalttat ist mehr als nachvollziehbar, und es ist auch wichtig, dass man die zum Ausdruck bringt. Ob man sich dann aber neben Leute stellen muss, die den Hitlergruß zeigen?

Wie blicken Sie zurzeit auf die EU? In welchem Zustand befindet sie sich in Zeiten des Brexit? Hat sie die größte Krise hinter sich oder sind wir noch mittendrin?

Ich glaube, wir sind noch mittendrin in der Krise. Das aber noch nicht mal so sehr wegen des Brexit. Der ist nicht gut – nicht für die Briten und nicht für die EU. Ich glaube mittlerweile, dass auf britischer Seite derart amateurhaft verhandelt wird, dass wir in einen Hart-Brexit laufen. Wenn alles so kommt, wird es vielleicht im April Zollgrenzen, aber kein Austrittsabkommen geben. Das wäre das Schlimmste, was passieren kann. Die EU würde es überleben, es würde zwischen Irland und Nordirland wieder schwierig – aber die Briten würden wirtschaftlich definitiv in die Knie gehen. Das haben, glaube ich, alle 27 verstanden, und deshalb ist da im Moment eine hohe Geschlossenheit. Deshalb ist der Brexit für die EU nicht das Problem. Mir macht Sorge der Zustand einiger osteuropäischer Staaten: Ungarn, Polen, Tschechien, Rumänien – wo man ganz offen sagen muss, dass hier rechtsstaatliche Grundsätze verletzt werden, dass Pressefreiheit eingeschränkt wird, dass die Freiheit des Lehrens und Studierens eingeschränkt wird. Das macht mir Sorge, weil hier die Grundwerte der Europäischen Union in Frage gestellt werden.

Das alles zusammengefasst heißt, dass wir uns bewegten Zeiten befinden. Sie haben drei Kinder. Machen Sie sich manchmal Sorgen, dass sie in einer schlechteren Welt aufwachsen als Sie?

Bis vor anderthalb Jahren habe ich mir die Sorgen nicht gemacht, mittlerweile mache ich sie mir. Ich bin aufgewachsen in dieser Demokratie, ’64 geboren, bin politisch sozialisiert worden Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre. Und man hatte immer das Gefühl: Diese Demokratie ist so gestärkt, da passiert nichts mehr in Deutschland. Und jetzt gibt es doch eine rechtsextreme Partei im Bundestag.