Bismarck. . In der Bleckkirche in Gelsenkirchen feierte der Martin-Luther-Abend „Anschläge: Konzert der 95 Thesen“ eine begeisterte Premiere.
„Auf dem Bleck an der Emscher fasste Mitte des 16. Jahrhunderts die Reformation in Gelsenkirchen Fuß“, können die rund 100 Besucher der Bleckkirche am Samstag am Eingang auf einer Infotafel zum Reformationsgedenkjahr lesen. Theaterpädagoge André Wülfing und Komponist Michael Em Walter konnten also keinen besseren Ort für die Uraufführung ihres Werkes „Anschläge: Konzert der 95 Thesen“ finden. Ein Kreis scheint sich zu schließen.
Was würde der Reformator heute sagen?
Die beiden Gelsenkirchener beschäftigen sich seit zwei Jahren mit dem Thema, „was würde Martin Luther heute sagen“, welches sind die Stimmen des Volkes in Deutschland aktuell, wie sind ihre Meinungen, Haltungen, Visionen und Ideen. Quer durch die Republik haben sie Beiträge gesammelt, in Gemeinden, bei Freunden, bei Bekannten. Das Ergebnis – düstere Schwermut, durch die von Em Walter gewählte Besetzung bereits zu erahnen. Die Streicher sind Viola (Natalia Demina), Violoncello (Daria Gusakova) und Kontrabass (René Lozynski), keine hellklingende Violine ist dabei. Die Posaune (Jan-Philipp Hirth) spricht mit sonorer Vehemenz, die Oboe (Anna Bittel) im verstörten Klang des Weltschmerzes. Wülfing hat die Form der chorischen Erzählung gewählt, gemäß altgriechischer Traditionen. Der Chor ist das Volk, das die Thesen des modernen Luthers, des einfachen Martin Luther Tisch, geboren in Düsseldorf von Eltern aus Wittenberg, teils bissig kommentiert.
Licht am Ende des Tunnels
Wülfing übernimmt den Part seines Protagonisten. „Was geschieht diesem Land, was geschieht unserem Heim?“, so beginnt die Odyssee durch die Vielzahl an Gedanken zur gesellschaftspolitischen Situation unserer Zeit. Die 95 Punkte lesen sich wie konkrete Entwürfe zu einem ganz besonderen Parteiprogramm, legen Finger in die vielfältigen offenen Wunden des heutigen Deutschlands. Sie gebieten „Die Ächtung jeglicher Waffenproduktion“, „Ein Grundeinkommen ohn´ Bedingung“, sie ermahnen „Die große Heimat ist die Erde“, „offene Menschgesellschaft heißt´s zu bleiben“. Schulreform, Verkehrsreform, Tierschutz, Klimawandel – kein Bereich wird ausgespart. Das Schlagwerk (Yukinobu Ishikawa) kommt zum permanenten Einsatz, untermalt mit Pauke und Trommel die Aussagen.
Überragende Darsteller
Der Chor meistert den Text mit Bravour, gut verständlich. Die Gesangskraft entfaltet er in den polyfonisch angelegten Choralpassagen. Ein Glanzstück das „Vater unser“. Das Quintett interpretiert überragend die unterschiedlichen Sequenzen von Begleitung des Chores und instrumentalen Abschnitten zur Verstärkung der Gefühle in den drei Akten. Zum Schluss aber scheint ein Schimmer der Zuversicht am Ende des Tunnels und eine Aufforderung zur Tat.