Gelsenkirchen. . Oliver Wittke glaubt, dass Gelsenkirchen als Standort sein Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft hat. Was Wittkes Ziele sind.

  • In der Reihe „SommerGEspräch“ sprach die WAZ mit dem CDU-Bundestagskandidaten Oliver Wittke
  • Der Gelsenkirchener will den Dialog mit der Türkei wieder aufnehmen, den Sozialen Arbeitsmarkt beleben
  • Entwicklungspotenzial sieht der Bundestagsabgeordnete für Gelsenkirchen in Forschung und Entwicklung

Über seine erste Legislaturperiode als Bundestagsabgeordneter, den Sozialen Arbeitsmarkt, die schwelende Türkei-Krise und weitere Themenfelder spricht Redakteur Nikos Kimerlis mit dem Gelsenkirchener Oliver Wittke, seit 2008 Vorsitzender der CDU Ruhr sowie seit 2013 Vorsitzender der CDU Gelsenkirchen.

Vier Jahre Bundestag sind vorüber, wie war das für Sie als Neuling?

Oliver Wittke: Ich bin zwar ein Neuling im Bundestag, aber nicht gänzlich unerfahren im politischen Geschäft. Es war ein Stück Ehrfurcht dabei – auch vor großen Entscheidungen wie beispielsweise die Ehe für alle oder der Brexit – das ist was anderes als Landtag. Aber ich habe festgestellt, dass im Bundestag auch nur mit Wasser gekocht wird.

Woran machen Sie das fest?

Der Meinungsbildungsprozess ähnelt dem im Rat der Stadt oder dem Landtag. Regierung spielt Regierung, Opposition spielt Opposition. Dennoch habe ich viele neue Erfahrungen gesammelt, obwohl ich seit 25 Jahren in unterschiedlichen Parlamenten sitze.

Was meinen Sie genau?

Der Einfluss oder der Versuch der Einflussnahme von Interessengruppen in Berlin ist enorm. Der Verband der Automobilindustrie beispielsweise ist genauso eine Lobbyistengruppe wie die Deutsche Umwelthilfe – beiden und den Interessenvertretungen überhaupt, ist ein enormes Expertenwissen gemein. Die Kunst ist es, zu schauen, wer was will und seine Informationen aus den Gesprächen zu ziehen. Man muss wissen: Auf jeden Abgeordneten in Berlin kommen vier registrierte Lobbyisten.

Wie schwer ist es, der Stimme Gelsenkirchens Gehör zu verleihen?

Es ist ein Unterschied, ob man einer Fraktion angehört, die 68 Mitglieder hat wie im Düsseldorfer Landtag oder wie in Berlin 311. Ich sag’ immer: Wenn ich in Düsseldorf eine Revolution vom Zaun brechen wollte, reichten drei Freunde. In Berlin sind drei Freunde relativ wenig.

Wie ist es Ihnen ergangen bei Ihrer ersten Rede unterm Bundesadler?

Ich habe meine Redezeit direkt überschritten und bin vom stellvertretenden Parlamentspräsidenten Johannes Singhammer (CSU) abgewürgt worden. Hinterher hat er mir gesagt, dass er nicht gewusst habe, dass es meine Premiere war, sonst wäre er nachsichtiger gewesen.

© Martin Möller

Ihre Themen – was konnten Sie anbringen, was nicht?

Ich bewege mich auf drei Kernfeldern: Verkehrs-, Kommunal- und Türkeipolitik. Manches war von Alltag geprägt. Wenn man etwa Berichterstatter für das Berufskraftfahrer-Qualifikationsgesetz ist, so gehört das nicht zu den spannendsten Themen. Die Pkw-Maut war da aufregender. Bei der Kommunalpolitik bin ich froh darüber, dass wir es hinbekommen haben, ein Investitionsprogramm für die finanzschwachen Kommunen aufzulegen. Also, dass Schulen und andere öffentliche Gebäude saniert werden können. Es wird dazu mehr Geld nach Gelsenkirchen fließen und ich hoffe, dass die Stadt auch all diese Mittel abruft, die dafür vorgesehen sind – das ist immerhin in diesem Jahr ein prominenter zweistelliger Millionenbetrag. Wobei der Bund nicht für die Finanzausstattung der Kommunen zuständig ist – das ist eigentlich Sache des Landes, auch wenn es durchfließendes Bundesgeld ist.

Und Ihr Negativerlebnis?

Traurig bin ich über die Türkeipolitik. Ich bin zwar kein Außenpolitiker, habe mich aber stets um türkische Angelegenheiten gekümmert. Als OB von Gelsenkirchen habe ich die Städtepartnerschaft mit Büyükcekmece begründet. Ich glaube, dass wir ein Interesse daran haben müssen, ein gutes Verhältnis zur Türkei zu pflegen. Immerhin leben in Deutschland über drei Millionen Menschen mit türkischer Herkunft. Das bedeutet, dass die Türkei kein außen- sondern ein innenpolitisches Thema ist. Deshalb sehe ich mit Sorge, dass sich Deutschland und die Türkei entfremden. Ziel muss es sein, dass wir uns wieder aufeinander zu bewegen.

Wollen Sie, dass die Türkei der beitritt oder sagen Sie: Die Tür ist zu.

Wir müssen die Türkei so eng wie möglich an die EU binden. Am Ende des Prozesses als vollwertiges Mitglied, dazu müssen Bedingungen erfüllt sein. Das ist aber Stand heute nicht der Fall. Die Bekämpfung von Terrorismus und die Flüchtlingsproblematik im Iran und Syrien wird man nur mit der Türkei hinbekommen. Und auch die Annäherung von Christen und Muslimen werden wir nur mit der Türkei bewerkstelligen. Und jetzt habe ich noch gar nicht von wirtschaftlichen Verflechtungen gesprochen, allein 6000 deutsche Unternehmen haben Niederlassungen in der Türkei. Oder vom Tourismus. Ich war eine Woche nach dem Putsch in Büyükcekmece, Bürgermeister Hasan Akgün und die anderen Verantwortlichen haben sich wahnsinnig darüber gefreut, dass ich gekommen bin und nicht wie viele abgesagt habe.

Halten Sie die Maut für sinnvoll?

Wer Infrastruktur nutzt, muss dafür zahlen. Das haben wir bei der Bahn, wo wir Trassenentgelte erheben. Das ist beim Luftverkehr so, wo Kosten für die Nutzung der Infrastruktur umgelegt werden. Und das müssen wir für die Straße hinbekommen. Bei den Lkw ist das schon so. Wir brauchen eine Verstetigung der Investitionen in die Infrastruktur, so dass immer Geld für Maßnahmen vorhanden ist. Also müssen die zahlen, die die Infrastruktur nutzen und abnutzen. Also alle.

Sorge bereitet Wittke die Türkei-Krise. Er wünscht sich regelmäßige deutsch-türkische Regierungskonsultationen.
Sorge bereitet Wittke die Türkei-Krise. Er wünscht sich regelmäßige deutsch-türkische Regierungskonsultationen. © Martin Möller

Bei welchen Themen sagen Sie, da habe ich nicht das erreicht, was ich mir vorgestellt habe?

Bei der Türkeipolitik. Ich hätte gern ein deutsch-türkisches Jugendwerk, so wie wir es mit Polen und Frankreich haben, weil gerade junge Menschen einander begegnen und sich verstehen lernen sollten. Ich wünsche mir regelmäßige deutsch-türkische Regierungskonsultationen, so wir sie mit Frankreich, Italien und Großbritannien pflegen. Es gibt hier kaum Türkeipolitiker in Deutschland und kaum Deutschlandpolitiker in der Türkei.

Und: Wir sind klasse beim Studienplatzangebot, wir haben die dichteste Hochschullandschaft in Europa und wir sind bei den Bildungsbeteiligungsquoten gut, heißt: Im Ruhrgebiet machen genauso viele Kinder Abitur wie anderswo. Beim dritten Schritt, dass sich in Forschung und Entwicklung hier mehr abspielt, da haben wir ein Riesendefizit – trotz aller Exzellenzinitiativen. Wir müssen darüber diskutieren, was wir können und wie wir unsere Stärken ausspielen, beispielsweise auf dem Sektor Chemie. Siehe unsere Raffinerien in Scholven und in Horst. Oder im Bereich der Wohnungswirtschaft. Darin sind wir sehr gut, wenn wir Bochum mit dazu nehmen, dann haben wir hier alle großen Player sitzen: Aral, BP, Vivawest, Vonovia.

Wie sehen Sie den Sozialen Arbeitsmarkt?

Gelsenkirchen ist in einer besonderen Lage, einmalig in der Republik. Es gibt nirgends eine höhere Hartz-IV-Quote als hier. Deutlich über 20 Prozent. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, die Städte mit einer Quote von über 15 Prozent herauszusuchen: Frankfurt/Oder, Halle, Bremerhaven, Offenbach und der Salzlandkreis, Essen und Gelsenkirchen. Die haben alle eines gemeinsam: zu wenig Arbeitsplätze. Deshalb glaube ich, dass man in diesen Städte andere Instrumente zur Verfügung haben muss, um dagegen anzugehen. Viele Gelsenkirchener würden, wenn sie in Düsseldorf wohnten, dort einen Job finden. Nur hier nicht, weil der Markt nicht da ist. Deshalb stehe ich mit Arbeitsminister Karl-Josef Laumann im Gespräch. Es wird, das hat er zugesichert, für Städte wie Essen und Gelsenkirchen maßgeschneiderte Programme geben. Wir haben das im Rahmen einer Runde mit Innungsmeistern, dem Jobcenter und der Agentur für Arbeit besprochen.

Zur besserer Einordnung: Ex-Finanzminister Walter-Borjans hat von den 40 Millionen Euro für den Sozialen Arbeitsmarkt nur die Hälfte freigegeben, offenbar glaubte er selbst nicht an die Wirksamkeit dieses Programms.

Wittke: Würde mich wieder für Politik entscheiden

Wie oft sehen Sie als Pendler inzwischen eigentlich ihre Familie noch?

Im Regelfall fahre ich montags nach Berlin und komme freitags zurück nach Buer, da sind aber Sondersitzungen und andere Ereignisse nicht enthalten. Grundsätzlich gibt es 23 Plenarwochen im Jahr. Ich komme gerade von einer Woche Familienurlaub in Berlin und Umgebung. Wir waren im Spreewald, haben uns ein Boot auf dem Wannsee gemietet und uns viel angeschaut. Das funktioniert. Zu Landtagszeiten war es oft anders: Da bin ich nachts um ein Uhr heimgekommen und morgens um sechs Uhr wieder los. Unsere Kinder sind mittlerweile groß. Der Jüngere, 15, geht jetzt für ein Schuljahr in die USA, der Ältere, 19, will ab Herbst in Bonn studieren. Ansonsten genießen es die Kinder, dass sie einen Trittstein in Berlin haben, denn die Hauptstadt ist sehr hipp.

Oliver Wittke würde seinen Kindern vom Gang in die Politik abraten. Das politische Geschäft ist für ihn auch eine „Knochenmühle“.
Oliver Wittke würde seinen Kindern vom Gang in die Politik abraten. Das politische Geschäft ist für ihn auch eine „Knochenmühle“. © Martin Möller

Was hätten Sie gesagt, wenn eines ihrer Kinder den Wunsch geäußert hätte, in die Politik zu gehen?

Oh, ich glaube dann hätten wir noch einmal darüber gesprochen. Im Leben weiß man ja nie was passiert. Der Jüngere ist politisch interessiert, aber ich glaube, meine Frau hätte davon abgeraten. Politik ist ja auch eine echte Knochenmühle. Da gibt es viele Höhen und Tiefen. Als OB (1999-2004) gewählt zu werden ist toll, als OB abgewählt zu werden weniger. Als Bau- und Verkehrsminister (2005-2009) ernannt zu werden ist schön, als Minister zurückzutreten nicht so. Das nimmt einen emotional sehr mit. Von daher hätte meine Frau sicher einige ernsthafte Gespräche mit den Jungs geführt.

Würden Sie denn selbst den Weg noch einmal einschlagen?

Ja – und zwar ohne Wenn und Aber. Politik ist ja mehr als ein Broterwerb, da verdient jeder Sparkassendirektor mehr. Man muss Freude an der Arbeit mit Menschen haben und am Gestalten.