Gelsenkirchen. . Suat Yilmaz hat sich 2011 für die Westfälische Hochschule als primus inter pares auf den Weg gemacht, Talente von Schülern zu fördern.
- Talentscout Suat Yilmaz (41) ist unermüdlich auf den Spuren schlummernder Schülerpotenziale, um zu helfen
- Er will Bildungsgerechtigkeit und gleiche Chancen für alle Schüler. Die eigene Biografie ist Teil seiner Arbeit
- Inzwischen ist Yilmaz auch Buchautor. Der Titel seines Erstlingswerks ist Programm: „Die große Aufstiegslüge“
Er sagt von sich selber: „Ich bin ein Tyrannosaurus rex, ich reagiere nur auf Bewegung.“ Wer Suat Yilmaz (41) kennt, weiß, wie das gemeint ist. Denn wer sich auf ihn zubewegt und die Chance ergreift, dem steht ein unerschütterlicher Wegbegleiter zur Seite ... bis zum Schulabschluss, zur Ausbildungsstelle, zum Studium, zum Beruf. Yilmaz ist der erste Talentscout an einer deutschen (Fach-)Hochschule. Und ist heute stellvertretender Leiter des NRW-Zentrums für Talentförderung. Ein Buch hat er inzwischen auch geschrieben: „Die große Aufstiegslüge – Wie unsere Kinder um ihre Zukunft betrogen werden“. Mit Sozialwissenschaftler Suat Yilmaz sprach WAZ-Redakteurin Inge Ansahl über Biografisches, Berufliches und das Bildungssystem.
Herr Yilmaz, erzählen Sie ein wenig über ihre Familie und seit wann Sie in Deutschland leben.
Suat Yilmaz: Mein Vater hat als Schlosser gearbeitet, meine Mutter ist leider vor 13 Jahren gestorben. Ich habe noch vier Schwestern und einen Bruder. Mein Vater ist Anfang der 1970er alleine rüber gekommen und zuerst bei Ford in Köln gelandet. Da gab es dann die ersten Gastarbeiterstreiks und er musste gehen, hat dann bei MAN in Oberhausen angeheuert. Wir sind 1978, dazu gekommen. Meine Geschichte können sie hundertausendfach hören.
Wohl wahr, aber es geht ja um Sie und wie aus dem Arbeiterkind aus der Türkei ein Talentscout wurde. Wie war ihre Schulkarriere?
Schwierig. Ich war nur kurz in der Kita und kam dann auf eine katholische Grundschule. Ich hatte sprachliche Schwierigkeiten. Aber ich hab’s geschafft: Ich habe eine Gymnasial-Empfehlung bekommen und bin 1986 zum Gymnasium gegangen. Aber das lief da nicht gut und hat nicht funktioniert.
Warum?
Die Schule war mit mir überfordert. Auf dem Gymnasium waren Arbeiterkinder noch Exoten. Ich fühlte mich einfach nicht wohl und bin da nicht angekommen. Nach zwei Jahren sollte ich zur Realschule wechseln, aber die hat mich nicht genommen. Ich bin dann auf die Hauptschule gegangen. Andernfalls hätte mich mein Vater auf ein Internat in Istanbul gesteckt. Die Bildung seiner Kinder war für ihn sehr wichtig. Die Hauptschule war auch nicht einfach. Ich hatte das Looser-Image, habe für mich ein erdrückendes Scheitern wahrgenommen und war gleichzeitig unterfordert.
Wann hat es in Ihrer Bildungsbiografie klick gemacht?
Ich bin auf dieser Hauptschule Leuten begegnet, die echte Lehrer, echte Zukunftsmacher waren. Die gemerkt haben: Offenbar kann der Suat was. Am Anfang der 10. Klasse hat der Rektor zu mir gesagt: Ich traue dir ein Abitur zu.
Whow, und das in Ihrer damals negativen Selbstwahrnehmung...
Ja, das war so, als wenn man in einem dunklen Raum sitzt und jemand macht das Licht in deiner Hoffnungswelt an. Der Rektor hat nicht viel gemacht. Der war knallhart aber gut – und er hat an mich geglaubt.
Wie ging es dann weiter?
Ich habe ihm gesagt, ich traue mich nicht zurück zum Gymnasium. Also der Kompromiss Gesamtschule. Rolf Pieper, so hieß der Rektor, hat mir eine empfohlen und darüber mit meinem Vater gesprochen. Diese Gesamtschule in Schmachtendorf hatte einen guten Ruf – und wenig Migranten. Ich wollte aber an eine andere Schule, weil dort meine ganzen Kumpels angemeldet waren. Schlussendlich habe ich in Schmachtendorf mein Abi gemacht. Leider doch nur mit 2,2. Danach habe ich erst mit dem Studium der Rechtswissenschaften angefangen, später Sozialwissenschaften an der Ruhruni in Bochum studiert. Übrigens ist meine damalige Gesamtschule heute im Talentscouting-Netz. Meine Lehrer sind ein Teil dieser Geschichte.
Aber bis zur Westfälischen Hochschule dauerte es ein paar Jahre?
Ich wollte nach dem Studium in die Entwicklungshilfe, habe aber erst einen auf drei Monate angelegten Honorarjob in der offenen Jugendarbeit bei der Stadtteil-Schule e.V. in Dortmund angenommen. Die Arbeit mit den Jugendlichen hat tierischen Spaß gemacht. Ich habe mich am meisten für die interessiert, denen keiner was zutraute und dabei viel gelernt. Aus drei Monaten wurden sieben Jahre! Nebenbei war ich ehrenamtlich in einem Akademikerverein und im Mentorenprogramm an der Gesamtschule Horst engagiert.
Wir nähern uns der Westfälischen Hochschule....
Ja (lacht). Ich bekam Kontakt zu Marcus Kottmann, der 2009 ein Strategiepapier zur Talentförderung in der Region entwickelt hat. Bei einer Begegnung 2011 hat er mir einen Zettel ‘rüber gereicht: Wir suchen jemand zum Aufbau der Talentföderung. Ich habe dann in der Stabsstelle beim Rektor angefangen. Bernd Kriegesmann hat uns beiden alle Freiheiten gegeben. Es gab Talentscouting in dieser Form an Hochschulen noch nicht. Das war Pionierarbeit. Ich konnte meine Erfahrungen in der Geschäfts- und Vereinsführung, in der Sozial- und Jugendarbeit gut einbringen.
War es ein schwieriger Anfang?
Kann man so sagen. Wir hatten ein Dreifachproblem: Ruhrgebiet, Gelsenkirchen und nur Fachhochschule. Ich habe mit acht Schulen angefangen und regelrecht gebettelt: Lasst mich Talentscouting machen. Heute ist die WH eine der renommiertesten Adressen für Talentmanagement. Und auf der finanziellen Seite haben wir allein für Gelsenkirchen und die Region in den letzten Jahren 20 Millionen an Projektmitteln eingeworben.
Was bedeutet es für Gelsenkirchen, Standort des NRW-Zentrums für Talentförderung zu sein?
Bildung ist unser neuer Rohstoff. Für Gelsenkirchen und das Ruhrgebiet ist Talentföderung ein Standortfaktor. Das Argument Strukturwandel ist beinahe schon Folklore. Wir entwickeln unter diesem Dach Bildungstechnologien. Unsere Schulen sind Produktionsstätten für Zukunft. Wenn wir in den nächsten sechs, sieben Jahren nicht handeln, bekommt unsere Gesellschaft Risse. Wir müssen uns klar machen, wir kriegen nur Leute in die Stadt, weil wir die Köpfe haben und Bildungsaufstiege möglich machen.
Wenn Sie den Talentscout Suat Yilmaz beschreiben müssten, was würden sie sagen?
Was ich mache ist Bildungspolitik, auch indem ich mich in unseren 160 Schulen um Stipendien für die bemühe, bei denen sonst nie etwas ankommt. Ich möchte die Mitte der Kids haben. Die Schüler sind meine obersten Dienstherren. Meine Visitenkarten ist Message. Da steht Talentscout drauf. Ich bin heute der Rolf Pieper. Aber: Die Schüler müssen nach dem ersten Gespräch auf uns zukommen.
So, wie Sie das in Ihrem Buch in einem Dialog mit Maik schildern?
Genau so. Meldest du dich nicht, melden wir uns auch nicht. Alles geschieht freiwillig. Aber wenn sich jemand entscheidet, seinen Traum zu erfüllen und die Schule als Abflughalle zu einer Reise zum Erfolg zu verstehen, hat er die Talentscouts über Jahre an seiner Seite. Ich kann nur sagen: Lasst uns aufhören, Schüler zu kategorisieren, sondern katapultiert sie nach oben.
Sind denn alle geförderten Talente am Ende erfolgreich?
Wir müssen auch mit Scheitern leben. Aber hinfallen und wieder aufstehen gehört zum Leben. Das ist Teil der Geschichte, auch meiner eigenen. Ich muss für mich eine Vision haben, um Power auf die Kids auszustrahlen. Immerhin haben wir eine Verweilquote von über 8o Prozent. Wir müssen Respekt haben vor Hoffnungen junger Leute, aber auch ihre Ängste ernst nehmen.
Sie üben Kritik am Bildungssystem, weil die penetrante Ungerechtigkeit täglich praktiziert werde ...
Eigentlich sollte mein Buch ja auch ,Elite von unten’ heißen. Das Ruhrgebiet ist eine mächtige Region mit großartigen Potenzialen, die wir entdecken und fördern müssen wie einen edlen Rohstoff. Wir sind ein reiches Land, wir haben exzellente Hochschulen und wir können Schulen jetzt mal anders in den Fokus nehmen. Aber alle, die glauben, ich sei ein Betreuer für Minderbemittelte, irren sich gewaltig. Talentscouting ist auch Wirtschaftspolitik.
Ist das Zentrum für Talentförderung bewusst im Süden angesiedelt?
Ückendorf ist der beste Standort für uns. Wir zeigen, dass wir die Kids, die zum Teil aus nicht einfachen Verhältnissen kommen, wertschätzen. Hier können wir den größten Gewinn machen.