Gelsenkirchen. . In ersten Projekten zeigt sich zart der Wandel des Problemviertels in Ückendorf. Eine Fassadenzeile wurde frisch renoviert, junge Mieter zogen ein.
63 Quadratmeter Hinterhaus an der Bochumer Straße, Erdgeschoss. Grün drückt sich durch Bodenritzen im Hof, ein Handwerker schraubt an der Hausfassade Kabel fest. Das Gebäude erhält Anschluss ans Glasfaser-Netz. Der Zugang durchs Vorderhaus führt in eine Baustelle, das Treppenhaus steht noch vor der Grundsanierung. Umbauzeit in Ückendorf.
Für Zuzanna, 26, Studentin, und Kathy, 27 und Sängerin, kein Problem. Vor wenigen Wochen sind sie eingezogen, richten noch ihre Wohnung her, hegen mit den neuen Nachbarn Pläne für die Gestaltung des Innenhofs. Zuzanna hat vorher in Köln gelebt, gut 500 Euro für eine Wohnung gezahlt, die nicht mal halb so groß war wie die neue. Für sie war der Umzug nach Ückendorf eine gute Entscheidung. „Wir fühlen uns hier sehr wohl, es ist einfach schön, weil sich hier gerade einiges entwickelt“, finden die Frauen. Dass ihr neues Viertel ein schlechtes Image haben soll, für manche ein Angstraum ist, angeblich beherrscht von Migranten-Clans? Die beiden wurden vorgewarnt – und wundern sich. „Wir kriegen das tägliche Leben hier mit. Es ist sehr positiv. Alles was so gesagt wird, hat sich nicht bewahrheitet“, sagt Zuzanna.
Leben in einen urbanen Stadtteil bringen
Eine Studentin, eine Künstlerin. Die beiden Frauen stehen wie frisch zugezogene Modedesigner oder eine Malerin ein Stück weit für die Bewohnerschaft, die sich Helga Sander, die Geschäftsführerin der SEG, der Gelsenkirchener Stadterneuerungsgesellschaft, wünscht. Eben Menschen, die neues Leben in einen urbanen Stadtteil bringen. Junge, Kreative, Familien, Wohngemeinschaften. Mit ihnen soll sich das Quartier ändern. Für sie werden Häuser verwandelt – in wieder vorzeigbare Wohnquartiere. „Wenn wir hier den Wechsel hinkriegen, hat das für ganz Gelsenkirchen positive Wirkung.“ Allein, weiß Sander, „kann die SEG das nicht. Ich brauche alle Partner vor Ort“ – Stadtplanung, Wirtschaftsförderer, Wohnungsbaugesellschaften wie die ggw, das Kulturreferat, soziale Einrichtungen, Initiativen. „Nur gemeinsam kriegen wir das gestemmt.“
Städtebaufördermittel fließen
Das ist nicht nur ein Plan. „Wir sind in der Umsetzung. Und wir haben das Potenzial, dass wir was machen können, Neuvermietung hinkriegen und junges Wohnen unterstützen“, sagt Sander und betont: „Ich will Impulse setzen. Das wird funktionieren. Davon bin ich überzeugt.“ Rund 20 Immobilien hat die SEG längs der Bochumer Straße gekauft, an die zwei Millionen Euro Städtebaufördermittel sind aktuell beantragt oder schon bewilligt. Einiges ist schon geschehen oder steht vor der Umsetzung: Das „Ücky“, der Ückendorfer Jugendtreff wurde verlagert, nebenan eine neue Mobile Kita eingerichtet, in den Räumen eines früheren Lebensmittelgeschäfts soll eine Bewegungshalle für Kinder aus dem Viertel entstehen, Sport und Integration verbinden.
Vermarktungserlöse aus dem Gelände der Ex-Kinderklinik und Städtebauförderungsmittel sind nicht alles, aber sie machen alles leichter. Die Basis für den Geldfluss: Strategische Stadtplanung, politische Entscheidungen, Papier. Allein das Integrierte Handlungskonzept zur Revitalisierung hat Telefonbuch-Stärke. Doch es ist auch eine Idee, die „verkauft“ wird. „Zur Bochumer Straße“, sagt Sander, „muss man eine Story erzählen.“
Denkmalzeile soll erhalten werden
Eine Story, die ein Kreativquartier malt, die Gebäude-Bestand schützt. Wichtig ist Sander, „dass wir die Denkmalzeile mit den Häusern 96 bis 114 erhalten“. Was Neubauten nicht ausschließt: Neben der Kirche „Heilig Kreuz“ wurden die Altbauten abgerissen. Ein Kindergarten wird hier entstehen, eine Initiative, die „Heidelbürger“, plant genossenschaftliches Wohnen und Arbeiten für Künstler. „Junges Wohnen soll ebenfalls in Nummer 96 realisiert werden. Wie das alles aussehen könnte, wird bald eine „Schaustelle“ in einem sanierten Modellhaus (Nummer 114) zeigen.
Vor der Häuserzeile Bochumer Straße 92 bis 102 wurde vor wenigen Wochen das Gerüst abgebaut, eine frisch renovierte Fassade kündigt vom gutbürgerlichen Bauen, das hier einst Standard war, als die Bochumer Straße geschäftige Schlagader Ückendorfs war. „Das war hier ja fast mal die bessere Innenstadt“, sagt Sander., das wissen auch noch viele Menschen, die hier leben.“
Die glorreichen Zeiten. Lange vorbei. Leerstände, von Bergsenkungen gebeugte Fassaden und städtebaulicher Wildwuchs prägen das Viertel. Alte Kneipen und Clubs haben in schneller Folge zwei, drei Pächter verschlissen. Nach dem letzten Internet-Café blieb dann nur noch der Leerstand. Dazwischen halten sich tapfer ein Traditions-Fleischer, Imbiss-Betriebe, Kioske. Doch selbst das frühere Stadtumbaubüro ist ein trauriger Sanierungsfall. „Möglichkeits.Räume“ hat die Stadt hier mal in die Fenster kleben lassen. Der Bürgersteig davor ist abgesperrt. Einsturzgefahr.
Nicht nur hier künden verstaubte Schaufenster von Hoffnungen und gescheiterten Geschäften. Das alte „Mystic“ und das etwas jüngere „Beans & Fury“ warten auf neue Impulse. Andernorts hat es die schon gegeben: Die alte Kutschenwerkstatt hinter dem Haus Bochumer Straße 132 ist bereits sporadisch Kulturort und soll es dauerhaft werden, ebenso das frühere „Exodos“. Ein Verein will es wiederbeleben. „Subversiv“ heißt er, der Name scheint Programm
Start-ups haben sich angesiedelt
Hinter den Häusern: verwunschene Gärten, zuwachsende Schuppen, teils pittoresker Niedergang. Aber nichts, was sich nicht wiederbeleben ließe, glaubt Sander. Sie sieht, auch jobbedingt, die Chancen, die sich hier auftun könnten. Nicht nur den Verfall.
Vereinzelt haben sich Start-ups angesiedelt, ein neuer Gastronomiebetrieb soll sich im Haus Nummer 102 ansiedeln. Weitere Bausteine nur, aber auch weitere Bestätigung. „Dass die Menschen so mitmachen, hatte ich nicht erwartet“, gesteht Sander, die vor einem Dreivierteljahr mit ihrer Arbeit begann. Überrascht hat sie, dass es vor allem „so viele junge Leute sind, die sich interessieren. Das ist der Schlüssel für eine positive Entwicklung.“
>> „Stadt.Land.Flair.“ für den Stadtumbau
„Stadt.Land.Flair.“ verspricht vollmundig die Vermarktungsstrategie für das Baugebiet „Am Buerschen Waldbogen“ und offeriert eine „neue Wohlfühlinsel“. Nun, zunächst wird es eine große Baustelle. Rund 110 000 Quadratmeter Netto-Baufläche stehen zur Verfügung, bis zu 250 neue Wohneinheiten sollen entstehen – vornehmlich im Einfamilienhaus-Bereich und in Doppelhaushälften, an der künftigen Straßen-Hauptachse auch in drei mehrgeschossigen Wohn-Blöcken.
240 bis 300 Euro pro Quadratmeter
Am Vermarktungserfolg im Norden hängt ein großes Stück weit im Süden der Stadtumbau längs der Bochumer Straße. Was am Standort der ehemaligen Kinderklinik Westerholt an Einnahmen erzielt wird, fließt netto nach Ückendorf und eröffnet der SEG, der Stadterneuerungsgesellschaft Gelsenkirchen, Projekte und Perspektiven. Mit der Vermarktung, sagt SEG-Geschäftsführerin Helga Sander, „hat für uns das operative Geschäft begonnen“.
Und das brummt. 240 bis 300 Euro pro Quadratmeter werden in Buer für – erschlossenes – Bauland aufgerufen. „Das ist nicht überteuert, es ist ein guter Preis“, meint Sander. Die Nachfrage bestätigt sie. Die ist weit größer als die Teil-Tranchen, die aktuell vermarktet werden, um nicht etwa ein Überangebot zu schaffen. Die 15 Grundstücke aus dem 2016 aufgelegten „First Mover Programm“ sind soweit in Planung und Abstimmung (auch mit einem Gestaltungsbeirat), dass noch „Ende Juli die ersten mit dem Hochbau anfangen können“, so Sander. Für die Hälfte der Gesamtfläche sind die Bau-Grundstücke bereits „weg oder reserviert“. Sander geht davon aus, dass das Kaufinteresse anhält und „wir vielleicht bis Ende 2020 die Gesamtvermarktung hinkriegen.“
25 Millionen Euro Verkaufserlöse einkalkuliert
Rund 25 Millionen Euro Verkaufserlöse sind einkalkuliert. Allerdings wird ein Großteil vor Ort wieder verbaut – für die Quartierserschließung, Straßen, Infrastruktur, einen Schallschutzwall. Sander rechnet langfristig mit „netto rund acht Millionen Euro Gewinn“, die für den Stadtumbau im Süden bleiben. „Damit bin ich auf der vorsichtigen Seite.“