Gelsenkirchen. Im Musiktheater im Revier erleben rund 850 Gäste einen Stadtempfang der nachdenklichen Töne. OB Baranowski fordert 2017 Mut und Haltung ein.
Auf dem Musiktheater im Revier bekennt sich das Ensemble, eben das ganze Haus weit sichtbar zu Grundwerten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht auf dem Fassadenbanner.
Grund(gesetz)liches kommt auch unterm Dach beim Neujahrsempfang am Freitag zur Sprache: Durch Oberbürgermeister Frank Baranowski, den Gastgeber, durch Prof. Harald Welzer. „Position beziehen“ ist sein Thema. Der Soziologe ist intellektueller Gesprächspartner an einem Abend, der sich gesellschaftlichen Brüchen und einer zunehmend hysterischen Gesellschaft in einem Land widmet, das faktisch so sicher und wohlhabend ist wie noch nie zuvor.
Moderator Mathias Bongard im Gespräch mit Welzer
Es ist diese Diskrepanz zwischen gefühlter Wirklichkeit und Realität, die Moderator Mathias Bongard und Welzer in ihrem Gespräch auf der MiR-Bühne aufgreifen. „Wenn man sich die Rahmendaten dieser Gesellschaft anschaut, wo kommt es dann her, dieses Phantasma, dass hier alles aus dem Ruder läuft?, fragt Welzer, und gibt ein paar Antworten, auch welche, die sich mit dem Zustand unserer Demokratie und wachsenden Ressentiments befassen.
„Der rechte Rand ist für eine Demokratie kein Problem. Das Problem sind nicht die Radikalen, sondern die Transmitter des Radikalen in die Mitte der Gesellschaft.“ Und da sei ihr Gedankengut angekommen, angetrieben durch Horst Seehofer & Co,, auch verbreitet durch ungezählte Talkshowrunden zu anscheinend immer gleichen (Flüchtlings)-Themen.
Mit etwas Oper („La fille du régiment“) und Operette („Die Lustige Witwe“), mit Musical (aus der neuen MiR-Produktion „Linie 1“) und gut 20 Minuten Kabarett von Wolfgang Trepper liefert der Abend zwar unterhaltsame wie satirische Zwischentöne, doch die Grundnote ist von Nachdenklichkeit geprägt. Auch bei Frank Baranowski. „Der Rückblick auf 2016 lädt nicht gerade zu Sentimentalitäten ein“, stellt der Oberbürgermeister fest. Die Geschehnisse in der Türkei, der Anschlag in Berlin, der Brexit, die US-Wahl mit einem Populisten im Weißen Haus – es sind unruhige Zeiten.
Der OB sieht eine zunehmende Aufgeregtheit
Die Stimmungslage sei fast noch beunruhigender als die Fakten. Auch der OB sieht eine zunehmende „Aufgeregtheit“, die um sich greife, befeuert durch soziale Medien. Der Umgangston habe sich verschärft, aber inzwischen stoße man auch „offline immer wieder auf Leute, die glauben, sich einfach überall auskotzen zu dürfen“. Eine verbale Steilvorlage, die Trepper später kabarettistisch aufgreift.
Es ist diese besondere Gemengelage, die Baranowski in seiner Rede beschäftigt, die sich um die wirtschaftliche, die soziale Lage der Stadt dreht, um Arbeitsmarkt und Ausbildung, um Zukunftsängste. Aber eben auch um den Einsatz für ein menschliches, solidarisches Gemeinwesen, um die Aufnahme von Flüchtlingen, die „ohne echte gesellschaftliche Verwerfungen“ bewältigt worden sei – als „gesamtstädtische Aufgabe“, getragen von der ganzen Stadt.
Gegen 21.40 Uhr streben die Gäste ans Büfett
Dafür brauche es „Mut, Wahrhaftigkeit, Engagement, Selbstachtung. Kurz: Es braucht Haltung“, stellt Baranowski fest. Am Ende bekomme man in einer Demokratie die „Gesellschaft, die wir verdienen. Es gibt da keine Automatismen, kein Schicksal – es liegt an uns.“ Und diesmal schloss der OB nicht nur mit seinem üblichen „Glück auf“, er forderte auch für 2017: „Bleiben wir mutig!“
Zunächst aber hungrig und durstig: Gegen 21.40 Uhr strömen die Gäste ans Büfett und Getränketheken.