Gelsenkirchen. . Gelsenkirchen ist mehrfach ausgezeichnet worden als Vorreiterbei Bildung zu nachhaltiger Entwicklung. Im WAZ-Interview erläutern sie Beweggründe und Ziele.

Gelsenkirchen hat die höchste Auszeichnung für die vorbildliche Umsetzung von Bildung zur nachhaltigen Entwicklung (BNE) beim Welt-Unesco-Aktionsprogramm bekommen. Die Stadt zählt damit zu den drei bundesweit Besten. Über Wirken und Nutzen solcher Arbeit und Ehrungen sprach die WAZ mit Stadtdirektor Dr. Manfred Beck und dem Leiter des aGEnda 21-Büros, Werner Rybarski.

Nun ist es amtlich: Gelsenkirchen ist eine der drei am besten für Bildung zur nachhaltigen Entwicklung streitenden Kommunen in der Republik. Neben der Anerkennung: Was genau hat die Stadt und vor allem ihre Bürger davon?

Stadtdirektor und Bildungsdezernent Dr. Manfred Beck (re.) und Werner Rybarski, Leiter des aGEnda 21-Büros im Gespräch.
Stadtdirektor und Bildungsdezernent Dr. Manfred Beck (re.) und Werner Rybarski, Leiter des aGEnda 21-Büros im Gespräch. © Foto: Martin Möller / Funke Fot

Dr. Manfred Beck: Man hat nicht unmittelbar etwas davon, nicht monetär, aber das Image wird ein anderes, die Wahrnehmung von Gelsenkirchen, was ja dringend notwendig ist. Es wirkt auch nach innen. Es ist die Bestätigung für das Engagement der gesamten Stadtgesellschaft, ohne die das nicht möglich wäre. Wir haben das ja schon sehr lange institutionalisiert mit dem aGEnda 21-Büro und dem eigenen Programmbereich bei der Volkshochschule.

Werner Rybarski: Es ist eine Bestätigung für den Rat der Stadt, die Politik, die Verwaltung, und die Zivilgesellschaft, die die Idee von Anfang an mitgetragen und weiterentwickelt haben. Und es verbessert das Image der Stadt. Nachhaltige Stadtentwicklung wird zudem immer mehr auch zu einem Standortfaktor. Mit unserer Aufnahme in das Netzwerk „Learning Cities“ tauchen wir auch international auf der Landkarte auf.

Werden durch die Auszeichnung auch konkrete Projekte wie Ziegenmichel und Mädchengarten vorangetrieben bzw. neue angestoßen?

Der Internationale Mädchengarten an der Schlosserstraße zählt zu den längst anerkannten außerschulischen Lernorten.
Der Internationale Mädchengarten an der Schlosserstraße zählt zu den längst anerkannten außerschulischen Lernorten. © WAZ

Rybarski: Ja, wir brauchen eine Wertschätzungskultur. Diese Arbeit ist oft nicht nur engagiert, sondern auch ehrenamtlich. Zu wissen, dass die eigene Arbeit geschätzt wird, man international zusammenarbeitet und man gemeinsam Zukunft schafft, motiviert zur Weiterarbeit.

Beck: Und es ist leichter geworden, Sponsoren zu finden. Ein Beispiel dafür ist das Elektroauto, das „Schalke hilft“ nach unseren Bitten dem Ziegenmichel gespendet hat. Erfolg macht nun mal sexy!

Rybarski: Zudem wird BNE immer mehr zu einem Kriterium bei der Vergabe von Fördermitteln. Da erleichtern uns unsere Auszeichnungen sehr, Geld von Land, Bund und Stiftungen zu bekommen.

Beck : Und man vertraut uns. Bei der Landesstrategiedebatte zum Thema wurden etwa 50 Prozent unserer Anregungen zur BNE aufgenommen.

Welche Ideen haben Sie aus Berlin von der Konferenz mitgebracht?

Rybarski: Man lernt immer neue Menschen und Projekte kennen. Dort traf ich auch den Schauspieler Walter Sittler, der einen Film über Schulwege von Kindern in aller Welt gedreht hat: „199 kleine Helden“. Wir wollen den Film im Frühjahr 2017 hier zeigen. Solche Impulse sind wichtig. Und auch der Austausch mit Wissenschaftlern auf solchen Konferenzen bringt uns weiter.

Gibt es eine Kommune, mit der sie sich in Punkto BNE besonders rege austauschen?

Rybarski: Ja, mit Essen. Die Stadt wird ja „Green Capital“ und wir planen eine Kooperation. Auch Alheim in Hessen mit seinen vielfältig nachhaltig genutzten Solarfeldern ist ein wichtiger Partner. Mittlerweile laufen bei uns viele Anfragen von anderen Kommunen ein, die sich Beratung zu BNE von uns wünschen. Wir müssen aber aufpassen, dass das nicht überhand nimmt.

Beck: Wir wollen eine Beratungsinstanz aufbauen mit Hilfe des Bundesministeriums, des Landes NRW und der Stiftung Mercator. Es geht darum, anderen Kommunen zu zeigen, wie Oberbürgermeister und Bürgermeister dafür gewonnen werden können, BNE-Prozesse zu fördern, um dann auch ihre Räte zu überzeugen. Ratsmitglieder auch aus anderen Städten bitten uns schon um Beratung. Ich bin nach den Ferien schon in drei Kommunen gebucht.

Wo sollte die Politik in GE noch mehr investieren ?

Beck: Als einfacher Gelsenkirchener Bürger, der ich ja ab Oktober dieses Jahres bin, hoffe ich, dass nachhaltige Stadtentwicklung, Partizipation aller Bevölkerungsgruppen und Bildung für nachhaltige Entwicklung weiterhin im Zentrum der politischen Entscheidungen stehen.

Das Bewusstsein für Nachhaltigkeit hat sich verändert, das Verhalten nur bedingt 

Hat sich im Bewusstsein für Nachhaltigkeit ihrer Einschätzung nach in den beiden Dekaden viel verändert?

Rybarski: Im Bewusstsein hat sich viel verändert – das Verhalten in der Breite allerdings noch nicht in ausreichendem Maße. Aber vor allem die Verwaltung hat seither eindeutig Kurs auf Nachhaltigkeit aufgenommen. Und bei den Jugendlichen wird Nutzung statt Besitz immer wichtiger. Sie sagen, ich kann mir auch ein Auto leihen, statt eins zu kaufen. Vieles in Punkto Nachhaltigkeit ist heute selbstverständlicher geworden. Aber in Hinblick auf globale Gerechtigkeit muss noch viel getan werden.

Beck: Es ist auch ein Fortschritt, wenn es beim Discounter fair gehandelte Bioware gibt und Verbraucher bereit sind, dafür mehr zu zahlen. Auch wenn das nicht jedem Bioladenbesitzer gefällt.

Welches sind die wichtigsten außerschulischen Lernorte für BNE?

Für Nachhaltigkeit steht der Biomassepark Hugo gleich im mehrfachen Sinn.
Für Nachhaltigkeit steht der Biomassepark Hugo gleich im mehrfachen Sinn. © FUNKE FotoServices

Beck: Wir haben mehrere Leuchttürme: Die Kreativwerkstatt mit mehr als 50 Partnern, die ihre Programme auf eine Linie abgestimmt haben und das VHS-Angebot ergänzen. Dann der Ziegenmichelhof, die Kinderburg und der Waldpädagogikansatz. Aktuell entwickeln wir das Zechengelände Hugo zu einem Nachhaltigkeitslernort, zu dem die Zeche Consolidation längst geworden ist.

Rybarski: Jeder Sportplatz ist ein Lernort. Und immer mehr Kitas und Schulen nutzen inzwischen den Wald als Lernort. Wir haben hier in Zusammenarbeit mit der Uni Wuppertal eine Studie erstellt mit klarem Ergebnis: Kinder mit Walderfahrungen weisen in der motorischen Entwicklung bis zu doppelt so hohe Leistungswerte im Vergleich zu Kindern in der Vergleichsgruppe auf. Wir sehen die ganze Stadt als einen Lernort an. Deshalb werden wir in der „Lernenden Stadt“ hierzu Apps entwickeln. Und das E-Learning für die Zukunftsstadt verbinden wir mit Sozialraumerkundung.

Was würden Sie gern schnell auf den Weg bringen im Sinne von BNE?

Beck: Ich finde den Waldpädagogikansatz im Forsthaus von Oliver Balke und in seinem Industriewald einmalig. Kitas und Grundschulen waren hier an der Entwicklung von Unterrichtmaterialien beteiligt, jetzt kommt die Sekundarstufe der Gesamtschule hinzu. Mein Traum wäre, dass es im Forsthaus selbst einen Naturwissenschaftsraum gibt, wo man Experimente vor Ort machen kann. Ich hoffe, das wird in allernächster Zeit umgesetzt.

Den Stadtdirektor zum „Change Agent“ ernannt 

Dr. Manfred Beck hat einen neuen Titel: „Change Agent“. Die deutsche Unesco-Kommission und die Bundesforschungsministerin haben ihm den Titel samt Urkunde verliehen. Für seine Verdienste um BNE. Auch die NRW-Bildungsministerin Sylvia Löhrmann hat Gelsenkirchen Vorbild-Funktion bescheinigt. Rybarskis und Becks Anliegen, BNE in die Lehrpläne aufzunehmen, wird umgesetzt. In der Landesstrategie für BNE sind viele Vorschläge aus Gelsenkirchen zu finden. All das hängt sicher auch mit den vielen Auszeichnungen zusammen, zuletzt der Zulassung zur zweiten Phase im Bundeswettbewerb „Zukunftsstadt 2030+“, die auch der von 50 verschiedensten Organisationen unterzeichneten Gelsenkirchener Erklärung zu verdanken ist.

„Kinder gestalten selbst: Das ist ein wichtiger Ansatz“

Im Industriewald Rheinelbe sammelte der neunjährige Lennart bei einem Ferienprojekt Beeren. Das Walderfahrung  indirekt beim Lernen hilft, haben Studien längst belegt.
Im Industriewald Rheinelbe sammelte der neunjährige Lennart bei einem Ferienprojekt Beeren. Das Walderfahrung indirekt beim Lernen hilft, haben Studien längst belegt. © Foto: Martin Möller / Funke Fot

Beck und Rybarski geht es darum, Verständnis dafür zu wecken, was alles außerschulischer Lernort sein kann. Für Beck ist das Musterbeispiel der neue Biomassepark auf dem Hugo-Gelände. „Hier sieht man eine Weiterentwicklung des Denkens. Es geht nicht nur darum, nachwachsende Gehölze und einen Biomassepark anzulegen; wir verbinden es mit einem Lehrpfad. Und der ist nicht nur mit Lehrtafeln ausgestattet, sondern dort werden von vorne herein Kitas und Schulen beteiligt. Kinder gestalten selbst: das ist ein wichtiger Ansatz, Gestaltungskompetenz ein zentraler Faktor. Mit Partizipation haben wir es in Gelsenkirchen nicht so einfach wie in Münster. Wir möchten aber erreichen, dass auch junge Menschen aus Bismarck und Rotthausen sich in angemessener Form beteiligen können an Gestaltung. Hier ist neues Denken entstanden. Wir sehen nicht isoliert Kita und Schule. Auch außerschulische Institutionen bringen sich ein in Bildungsprozesse, das reicht vom Musiktheater bis zu Schrebergärten.“

Beck bleibt übrigens auch nach dem Ausscheiden aus der Stadtspitze Vorsitzender des Fachforums Kommunen für BNE.