Gelsenkirchen. „Fragmente“ titelt das 4. Sinfoniekonzert der Neuen Philharmonie, das erste meisterliche „Bruchstück“ des Abends ist die „Unvollendete“ von Franz Schubert.

Leise und sacht erheben sich die ersten Töne am Montag im Musiktheater im Revier aus den Reihen der Celli. Strich um Strich baut sich eine spannungsgeladene Vorahnung auf, eine unterschwellige Ruhelosigkeit durchströmt den großen Konzertsaal im nicht ganz ausverkauften Haus. „Fragmente“ titelt das 4. Sinfoniekonzert der Neuen Philharmonie, das erste meisterliche „Bruchstück“ des Abends ist die „Unvollendete“ von Franz Schubert.

In die crescendierende Dramatik der Streicher fordert GMD Rasmus Baumann mit zarten Gesten die beruhigenden Melodien des Themas ein, die Oboen, die Flöten, die Blechbläser – jeder Musiker der NPW folgt dem Dirigenten auf den Punkt in die Entfaltung einer unglaublichen Schönheit. Unwillkürliche Wendungen zerstören die Idylle, wenn sie am lieblichsten ist, gleich dem Schicksal, das im Leben unbarmherzig zuschlagen kann, führen sie in einen spektakulären Abschlussakkord.

Solist Linus Roth brilliert

Im folgenden „andante con moto“ wischt Baumann sanft mit dem wiegenden Dreiertakt die Wogen glatt, der Satz endet, auch wenn die „unendliche“ Konfliktualität immer wieder zu Tage kommt, in einem immensen, virtuos gespielten, „pianissimo“. Brüche energischer, kraftstrotzender Natur präsentiert der Konzertsatz für Violine und Orchester C-Dur WoO5 von Ludwig van Beethoven. Solist Linus Roth verfolgt versunken das lange, zackig springende Intro, bevor seine Violine in das Geschehen eingreifen darf. Voll intensiver Gegensätze, kein Dialog, sondern parallele Klagen schierer Einsamkeit. Roths Interpretation ist virtuos wie seine Technik, die abrupten Oktavsprünge inbrünstig und schneidend. „So schön und leider so kurz dieses Stück“, bedauert der Geiger nach dem langen Applaus. Sein exzellentes Können bestätigt er mit der dritten Solosonate von Eugène Ysaye in der Zugabe.

Sechs Minuten lang steigert sich das verzweifelte Spiel

Die fortwährende Suche nach dem Sinn der Existenz kündigt sich nach der Pause mit einem sonoren Ton-Teppich der Streicher an, wie dumpfes Donnergrollen in der Ferne. Gänsehaut und Bedrückung stellt sich bei „The Unanswered Question“ des Amerikaners Charles Ives ein. Kontrabässe, Violoncelli, Bratschen und Geigen erzeugen ein Perpetuum von sanfter Brandung. Dann, unvermittelt im Rücken der Zuhörer mit einem Überraschungsmoment und Spiel mit dem Raum, ein einzelnes Motiv einer Solo-Trompete. Die quälende Frage, wie in ein Vakuum gesendet, versucht das Quartett aus dissonanten Querflöten vergebens zu beantworten. Sechs Minuten lang steigert sich das verzweifelte Spiel bis zu einem abrupten Ende ohne Auflösung.

Meisterhaft die Interpretation der NPW, die sich mit den fiebertraumhaften Episoden von Gustav Mahlers Adagio aus der Sinfonie Nr. 10 Fis-Dur fortsetzt. Eine unglaubliche Homogenität der Streichersektionen, unfassbare Wellen der Blechbläser, die Querflöten ruhig wie im Auge des Zyklons . Nach dem letzten Ton konzentrierte Stille des Publikums vor dem tosenden Applaus. Wenn das Leben einen Sinn hat, liegt der auf jeden Fall in den formvollendeten Klängen des Abends.