Gelsenkirchen. Archäologen sichern und dokumentieren vor der Neugestaltung des Heinrich-König-Platzes ein Gräberfeld an der evangelischen Altstadtkirche.
So viel Aufmerksamkeit erfährt archäologische Grabungstätigkeit eher selten. In den letzten Tagen kratzten sich drei Experten kaum beachtet durch den Untergrund vor der evangelischen Altstadtkirche. Seit Freitag legen sie reihenweise Gräber frei. Schädel und Skelette ragen dunkelbraun aus knallhartem Lehmboden, das Interesse der Zaungäste wuchs rasant.
20, 30 Menschen verfolgen jeden Pinselstrich, knipsen mit Handys. Und mit leichtem Schauer wird man gewahr: Hier, direkt vor der Kirche, am Heinrich-König-Platz, ist man Jahr und Tag buchstäblich über Leichen gegangen.
Eine sehr dörfliche Vorgeschichte
Sie werden nun dokumentiert, fotografiert und gezeichnet, wie die gesamte Fundsituation samt Mauerresten zu einem Gesamtplan gefügt wird. Auch Gelsenkirchen, diese Industrie-Großstadt, hat ja eine sehr dörfliche Vorgeschichte als kleines Kirchspiel. 1085 findet hier der erste Geistliche Erwähnung. „Für das gesamte Siedlungsgebiet Gelsenkirchen ist das hier der zentrale Platz“, steht für die Historiker fest. Zwei Vorgänger-Kirchen haben seit dem 11. Jahrhundert Spuren im Untergrund hinterlassen samt mehreren hundert Jahren Bestattungskultur.
Die Gräber, die Freitag untersucht werden, wurden im 13. Jahrhundert angelegt. Im alten Kirchenschiff oder direkt daneben. Die Nähe zum Allerheiligsten, so die Vorstellung, brachte die Verstorbenen dem Himmel nah. In West-Ost-Ausrichtung wurden sie in der Regel beigesetzt – mit dem Gesicht zur aufgehenden Sonne, zum Licht, letztlich zur Erkenntnis. Eine Randscherbe mit Henkelansatz lässt die Datierung zu. Nach Sichtung des besonderen Steinzeugs war klar: „Damit sind wir auf jeden Fall im Mittelalter“, sagt Wolfram Essling-Wintzer, wissenschaftlicher Referent vom LWL in Münster. Wahrscheinlich ist, dass sich im Umfeld der Kirche an die 1000 Gräber befanden. 25 werden jetzt freigelegt und untersucht.
Unterschutzstellung ist beantragt
Im Zuge der Platzneugestaltung hat die Stadt „Unearth – Archäologie und Dokumentation“ aus Münster mit den Arbeiten beauftragt. Begleitet und schließlich auch weiter ausgewertet werden sie vom LWL, dem Landschaftsverband Westfalen Lippe. Dort laufen im Bereich Archäologie die Fäden zusammen. Essling-Wintzer geht von einem „hochrangigen Bodendenkmal aus. Die Unterschutzstellung ist beantragt und befindet sich im Prüfungsverfahren.“
Mit dem Denkmalschutz hatten Vorgänger-Generationen weniger am Hut. Fundamente wurden einst mitten ins Grabfeld gesetzt, den großen Rest rasierte der U-Bahn-Bau. Historie, großflächig weggebaggert. Entsprechend konzentrieren sich die Archäologen jetzt auf den Bereich direkt an der Kirche.
Die obere Platzschicht wurde auch hier mit Baumaschinen weggeschoben. Seitdem ist für Dr. Jan Markus und seine Kollegen neben Hand- auch Entdeckerarbeit angesagt. In einem Grab fanden sie eine geschliffene Steinperle, wohl von einem Rosenkranz. In einem anderen offenbart sich eine traurige Geschichte. Hier wurde eine junge Frau mit einem Neugeborenen beigesetzt. Altstadt-Pfarrer Peter Gräwe sieht all die Details derweil mit großem Interesse: „Man kommt sich ja fast vor wie Indiana Jones.“