Gelsenkirchen-Buer. . Aus alten Aufnahmen leitet das Referat Umwelt aktuelle Informationen ab. Zusammen mit der Ruhruniversität entwickelte die Stadt ein Pilotprojekt.

Alliierte Flugzeuge am Himmel über Gelsenkirchen: Im Mai 1940 fallen die ersten Bomben auf kriegswichtige Betriebe, im November 1944 beginnt der Hauptangriff auf Zechen, Kokereien, Hydrierwerke, Straßen und Eisenbahngleise. Ob Aufklärungs- oder Angriffsflug: Immer sind Kameras dabei, die aktuelle Aufnahmen machen von der Lage in Hitler-Deutschland. Die so entstandenen Luftbilder geben nicht nur Historikern beredt Auskunft.

Auch acht Jahrzehnte später werden sie noch zu Rate gezogen – um Altlasten im Boden auf die Spur zu kommen. In einem Pilotprojekt in Kooperation mit dem Institut für Geomatik der Ruhruniversität Bochum hat die Stadt über 5000 Luftbilder auswerten lassen. Aus 99 Aufnahmen, entstanden in 1945, konnte jetzt ein Luftbildmosaik geformt werden. Es bildet das Stadtgebiet komplett ab.

Am Computer nachbearbeitet

Dass Luftbilder dazu dienen, Bomben und Blindgänger aus dem letzten Weltkrieg aufzuspüren, ist nicht neu. Beeindruckend aber ist die Zahl der Bilder, die mittlerweile zur Verfügung stehen: „Die Alliierten haben dem Land Nordrhein-Westfalen rund 480.000 Kriegsluftbilder zur Verfügung gestellt“, erläutert Gerhard Ruppel, Geograph und Abteilungsleiter Altlasten/Bodenschutz beim Referat Umwelt. Bilder von oftmals schlechter Qualität, aufgenommen aus unterschiedlichen Höhen und Winkeln, verzerrt und am Rand verschwommen, allesamt versehen mit einem enormen Nachbearbeitungsbedarf. Carsten Jürgens vom Institut für Geomatik: „Die Bilder sind in der Regel nur in der Mitte verzerrungsfrei.“ Am Computer wurden sie so aufeinandergelegt, bearbeitet und korrigiert, dass sie nun ein detailscharfes Gesamtbild der Industriestadt Gelsenkirchen abgeben.

Schnee, Wolken, Kameras und Maßstäbe

480.000 Kriegsluftbilder und kaum eins ist wie das andere: So setzten die Alliierten unterschiedliche Kameras und Maßstäbe ein, mal behinderte Schnee die Sicht, mal sorgten Wolken für schlechte Sicht.

Auch Aufnahme- und Reproduktionsfehler mussten bei der Bearbeitung ausgeglichen werden.

Kraterdurchmesser, Schattenwürfe, großflächig zerstörte Gebäude oder zielgenaue Löcher in Dächern lassen Rückschlüsse zu über das Ausmaß der Zerstörung, über die Art der eingesetzten Bomben, über Zündermodelle und die verwendeten Sprengstoffe.

Ein Klick zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Gabriele Sobczak von der Unteren Bodenschutzbehörde, interessiert dabei weniger die historische Dimension dieser Fotos als vielmehr die aktuelle Ableitung von Informationen, die jetzt möglich ist. An ihrem Bildschirm kann sie die historischen Aufnahmen auf neue Pläne und Karten legen und somit mit einem Klick Vergangenheit und Gegenwart vergleichen. „So können wir vorsorgenden Bodenschutz betreiben“, erläutert sie den Nutzwert dieser Datengrundlage. Bei Bauanträgen kann überprüft werden, ob unter der Bodenoberfläche ein Blindgänger vermutet werden kann, ein gesprengter Kesselwagenzug legt den Verdacht nahe, dass sich im Umfeld auch heute noch Altlasten nachweisen lassen.

Somit lassen sich Aussagen treffen, wie das Areal heute genutzt werden kann: als Bauland, als Altlastenbereich, den man absichern und abdichten muss, oder als naturnaher Boden. Gelsenkirchen hat mit der Auswertung der Bilder den Anfang gemacht. Die „Findhilfe erfassungsrelevanter Luftbilder“ kann auch von anderen Städten in NRW genutzt werden. Bildmaterial gibt es ja genug.

72 Prozent des Stadtgebietes waren zerstört

Das Ausmaß der Zerstörung war unermesslich: Während des Zweiten Weltkriegs wurden in Gelsenkirchen 184 Luftangriffe von alliierten Verbänden gezählt. Dabei fielen 55.035 Sprengbomben und 363.491 Brandbomben auf die Stadt. Am Ende waren 72 Prozent des Stadtgebietes zwischen Hassel und Rotthausen zerstört.

Früher wurden Luftbilder mit dem Spiegel-Stereoskop ausgewertet. Aus zwei Luftbildern entstand eine dreidimensionale Projektion. Heute vertrauen Gabriele Sobczak und Gerhard Ruppel auf den Einsatz von Computerprogrammen.
Früher wurden Luftbilder mit dem Spiegel-Stereoskop ausgewertet. Aus zwei Luftbildern entstand eine dreidimensionale Projektion. Heute vertrauen Gabriele Sobczak und Gerhard Ruppel auf den Einsatz von Computerprogrammen. © Olaf Ziegler

Vor Beginn des Krieges lebten in Gelsenkirchen 317.568 Menschen in 21.900 Häusern mit etwa 92.000 Wohnungen. Im Mai 1940 fielen die ersten alliierten Bomben auf die Stadt. Ihr Ziel: kriegswichtige Gewerbe- und Industriebetriebe. Als der Krieg im Mai 1945 zu Ende ging, waren in Gelsenkirchen 5.475 Gebäude vollständig zerstört und 5.870 schwer beschädigt. Nur 1.515 Häuser blieben unbeschädigt. Die nackten Zahlen und die Kriegsluftbilder sind mehr als nur eine Momentaufnahme. Gerhard Ruppel: „Kriegsluftbilder zeigen nicht nur Schäden, sie zeigen auch das unendliche Leid, das der Krieg angerichtet hat.“