Gelsenkirchen-Horst. Dutzende Anwohner drängten sich am Donnerstag in die Gaststätte Zilch. Das Thema Zuwanderung aus Osteuropa bewegt die Menschen in GE-Horst.

Schwer zu schätzen, wie viele Menschen sich am Donnerstag in die Gaststätte Zilch drängen. Für den Raum und die Temperaturen sind es definitiv zu viele. Hinzu kommt eine äußerst hitzige Debatte. Aber es zeigt: Das Thema Zuwanderung aus Osteuropa bewegt die Menschen rund die Markenstraße wie kein zweites.

Bezirksbürgermeister Joachim Gill (SPD) hat nach der Straßenschlacht vom Sonntag, bei der laut Polizei 20 bis 30 Rumänen und Bulgaren aufeinander einschlugen, spontan eingeladen, um über die Probleme der Anwohner zu diskutieren.

Schlägerei nur Spitze des Eisbergs

Hatte keinen leichten Stand: Stadträtin Annette Berg.
Hatte keinen leichten Stand: Stadträtin Annette Berg.

Vertreter der Stadt, des Ordnungsamts, der Polizei und der Awo sind Gills Einladung gefolgt. Dutzende Bürger ebenfalls. Viele sind frustriert, genervt, einige auch ungehalten. Sie wollen keine Sonntagsreden hören, sondern Lösungen. Entsprechend schnell kochen erste Emotionen hoch. Stadträtin Annette Berg: „Wenn sie gekommen sind, um zu hören, wie sie die zugewanderten Menschen schnell wieder los werden können, dann sind sie hier an der falschen Stelle.“ Erste Buh-Rufe hallen durch die Kneipe. „Dann höre ich mir das gar nicht erst an“, ruft einer von der Theke rein. Worauf ihm Berg deutlich den Weg zur Tür weist.

Polizei ist auf Hinweise angewiesen

Polizei und Ordnungsamt nutzten den Abend, um für offene Augen und Ohren zu werben – und im Zweifelsfall für den Griff zum Telefon. „Wir als Polizei brauchen Hinweise“, sagte deren Sprecher Torsten Sziesze. Das heißt: Im Zweifelsfall lieber einmal zu viel den Notruf der Polizei anrufen als zu wenig.

Auch Frank Hutmacher lud die Anwohner ein, sich ans Ordnungsamt zu wenden. Die Rufnummer: 0209 169 3000.

Die Sorge vor immer unhaltbareren Zuständen ist groß. Denn die Straßenschlacht bezeichnen viele nur als die Spitze des Eisbergs. Zu viel sei bereits passiert. Bürger erzählen von Ruhestörungen, von aus den Fenstern geworfenem Müll, von Kindern, die nicht zur Schule gehen, von mutwillig zerkratzten Autos und – als Tiefpunkt: von „Menschen, die auf die Straße kacken“. Verhaltensweisen, die bei vielen zu einem Urteil führen: „Die wollen sich hier nicht integrieren!“

500 Bulgaren und Rumänen in Horst

Da prallen Welten auf­einander, wenn die Vertreter auf dem Podium genau das propagieren: Integration. So hat Bora Ergin vom zuständigen Referat der Stadt einen schweren Stand. Auch Frank Hutmacher, Abteilungsleiter im Ordnungsamt, muss wütende Zwischenrufe hinnehmen.

Von ihm geschilderte Maßnahmen – etwa verhängte Geldbußen und Objektkontrollen zum Teil mitten in der Nacht – reichen vielen nicht aus. „Welche Argumente kann ich meinen Kindern geben, in Horst zu bleiben?“, fragt Anwohner Jörg Kulken – und fordert alle Verantwortlichen auf: „Macht was, dass ich wieder stolz auf Horst sein kann!“ Tosender Applaus.

Mehr Polizei verhindert Kriminalität nicht

Polizeisprecher Torsten Sziesze sagt: „Mit doppelt so vielen Polizisten wird es trotzdem immer Kriminalität geben.“
Polizeisprecher Torsten Sziesze sagt: „Mit doppelt so vielen Polizisten wird es trotzdem immer Kriminalität geben.“

Ob mehr Polizei nicht die beste Lösung sei, fragen manche. Dazu Polizeisprecher Torsten Sziesze: „Mit doppelt so vielen Polizisten wird es trotzdem immer Kriminalität geben.“ Auch wenn Frank Hutmacher einräumt: „Mit mehr Personal kann man natürlich immer mehr machen.“ Letztlich sei dies aber auch eine Frage des Geldes, stellt Joachim Gill klar: „Eine 24-Stunden-Wache für Horst wird sicherlich nicht kommen.“ Und dennoch gibt es viel Lob für die Arbeit der Polizei, die am Sonntag in Windeseile vor Ort war. Dafür applaudieren fast alle.

Unhaltbare Zustände

Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was die Anwohner der Markenstraße da am Donnerstag geschildert haben, dann sind es in der Tat unhaltbare Zustände. Dass da Emotionen überkochen, ist allzu verständlich. Ebenso, dass die Erwartungshaltung an Politik und Polizei hoch ist. Wer das seit Monaten oder noch länger mitmacht, möchte lieber heute als morgen, dass es wieder aufhört.

Doch schnelle Lösungen gibt es nicht. Das ist die bittere Erkenntnis für die Bürger. Und für die Stadt? Dass den Bürgern der Schuh an dieser Stelle stärker drückt, als sie es zugeben will. Die Diskussion hat eines offenbart: Der Frust ist immens! Und er hat sich bei den Wahlen im vergangenen Jahr bereits entladen: bis zu 17 Prozent für die AfD. Und je mehr Menschen sich unverstanden und alleingelassen fühlen, desto besser wird deren Wahlergebnis ausfallen.

Um es klar zu sagen: Die große Mehrheit hat emotional und deutlich, aber fernab von rechten Gedanken, ihre Meinung geäußert. Zur Wahrheit des Abends gehören aber auch die teils grenzwertigen Zwischenrufe, mit denen einige besonders Unzufriedene auf sich aufmerksam machten. „Alle in einen Bus und dann weg mit dem Pack“, sagte einer. Es gab Applaus – nicht von der Mehrheit, aber auch nicht nur vereinzelt.

Aufgabe von Politik ist es, zu einen, nicht zu spalten. Am Beispiel Markenstraße erscheint dies als fast unlösbare Aufgabe.

Zahlen will manch einer wissen. 500 Bulgaren und Rumänen gebe es zurzeit in Horst, so Hutmacher. 7000 seien es insgesamt in der Stadt. „Warum kommen so viele nach Gelsenkirchen?“, fragt ein Mann. Annette Berg nennt auch andere Städte, die das Problem ähnlich betrifft: Duisburg, Essen, Hagen. Sie spricht von „Armutszuwanderung“ und erklärt den Zusammenhang mit Schrottimmobilien. Hier seien oft die Besitzer das Problem. Hutmacher: „Wir versuchen schon zu verhindern, dass Immobilienbesitzer, die uns negativ aufgefallen sind, weitere Häuser ersteigern.“

Eine Bühne für die Anwohner

Den wohl größten Beifall erntet eine Frau, die vor 45 Jahren aus Lissabon nach Gelsenkirchen gekommen ist. Sie sagt: „Euer Land, das damals so schön und sauber war, ist jetzt so dreckig und schäbig. Lasst euch euer Land nicht kaputt machen!“ Mit weniger Zuspruch muss sich die Anschlussrednerin begnügen: „Man muss aber auch selber aktiv werden“, sagt sie. „Ja, ich habe auch manchmal Angst, Leute auf ihr Fehlverhalten anzusprechen. Aber es geht nicht ohne.“

Die Diskussion endet nach gut zwei Stunden. Viele haben den Saal bereits vorher verlassen – manch einer empört, andere nass geschwitzt. Der Erkenntnisgewinn? „Es war natürlich klar, dass wir hier heute Abend keine Problemlösung liefern“, so Joachim Gill. „Uns kam es darauf an, den Anwohnern mal eine Bühne zu bieten.“