Im zweiten Teil des Rückblick geht es um den Weg zum Großkraftwerk im Gelsenkirchener Norden. 1936 wird Europas höchster Kamin eingeweiht. Nach dem Krieg wird das Werk schnell wieder aufgebaut.
1936 ist in Scholven ein gewaltiger Industriekomplex entstanden. Die Hibernia betreibt im Norden der Stadt ein Bergwerk, eine Kokerei sowie ein Hydrierwerk (ehemals Stickstoffwerk). Der Stadtteil hat sich parallel entwickelt. Knapp zehntausend Menschen leben und arbeiten hier. Dazu kommt das ausgebaute Kraftwerk - das Herzstück für den Betrieb des Komplexes.
Der neue Höchstdruckkessel erreicht neue Spitzenwerte. Die Dampftemperatur beträgt nun 535 Grad Celsius; der Druck steigt von 29 auf 125 atü. Das Kraftwerk gilt als Prototyp. Die technischen Neuerungen ermöglichen die Versorgung der verschiedenen Werke mit unterschiedlichen Drücken. Auch der Dampf kann mit unterschiedlichen Temperaturen geliefert werden. Zeche und Kokerei benötigen 325 Grad Celsius, das Hydrierwerk nur 260 Grad. Ab 1936 können im neuen Großkraftwerk jetzt rund 1,9 Mio Kilowattstunden Strom erzeugt werden. Zum Vergleich: Die Anlage, die bis 1929 arbeitete, kam auf eine Tagesleistung von 50 000 Kilowattstunden. Das Kraftwerk hat seine Leistung damit um das 380-fache gesteigert. Die installierte Maschinenleistung wird zwischen 1936 und 1939 durch den weiteren Ausbau noch einmal erhöht und erreicht schließlich 109 MW.
Der 14. Juli 1936 ist für die Scholvener Bevölkerung ein ganz besonderer Tag: Denn auf der Schachtanlage Scholven geht der damals höchste Schornstein Europas in Betrieb: 150 Meter hoch, das Fundament hat einen Durchmesser von 24 Meter und es werden 1,5 Millionen Ziegelsteine für den Bau des „Langen Heinrichs” benötigt, wie er schnell im Volksmund genannt wird. Kein Wunder, dass die Zeitungen sich mit Superlativen überschlagen: „Gigantischer Zeuge der Arbeit”, „Schlotgigant”, „König der Schlote”, „Der Riese von Buer-Scholven” oder ein „Ausrufungszeichen der Industrie”. Und immer wieder darf in keinem Bericht der Hinweis fehlen, dass der Kölner Dom nur sieben Meter höher ist.
Sogar der Reichssender Köln ist am 27. Juni in Scholven zu Gast. Reporter Dr. Ernst führt zahlreiche Interviews und stellt auf der Spitze des Schornsteins staunend fest: „Von hier aus kann man das ganze Ruhrgebiet überschauen.
Im Oktober 1935 haben die Arbeiten unter Leitung der Dortmunder Kaminbaufirma Heinrich Rübbenkamp begonnen, die die meisten Schornsteine in dieser Zeit in Scholven fertig gestellt hat. An der Spitze der örtlichen Bauleitung steht Heinrich Voß, der schon 1909 beim Bau des ersten Ringofenkamins auf der Schachtanlage Scholven dabei war. Damals zgoen die Maurer ihre Steine und das übrige Baumaterial noch mit der Hand über eine Rolle auf dem Baugerüst in die Höhe. Wenn sie es sich leisten können, wird ein Pferd eingespannt, das die Lasten in den Bau des entstehenden Schornsteins zieht. Jetzt macht die Arbeit ein Dampfkabel.
Nach dem Krieg muss das Kraftwerk Scholven wie die Siedlung drum herum wieder komplett aufgebaut werden. In Scholven werden nach dem Krieg zwischen 500 und 800 Millionen Kilowattstunden Strom (kWh) erzeugt. Zum Vergleich: Heute sind es über 10 Milliarden kWh. Direkt nach dem Krieg ist Scholven im Hibernia-Konzern wieder das leistungsstärkste Kraftwerk. Und mit dem Ausbau ab 1968 wird es eines der größten in Europa.
Zunächst gehören Zeche und Kraftwerk zur staatlichen Bergwerksaktiengesellschaft Recklinghausen (Bergag). 1926 erfolgt eine Kooperation mit der Hiberni, 1929 kommen beide unter das Dach der neuen Veba (Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerks-AG) Die Hibernia bleibt aber bis 1970 eigenständig und betreibt auch das Kraftwerk Scholven. 1969 kommt es zur Gründung der Veba Kraftwerke Ruhr GmbH (VKR), ab 1970 wird sie eine AG, eine 100prozentige Tochter der Veba AG. Seit 1998 erfolgt die Fusion mit PreussenElektra, 2000 der Zusammenschluss als Eon Kraftwerke.
Fortsetzung folgt