Essen-Südostviertel. Im Michelshof an der Steubenstraße wurde 1903 das erste Pils gezapft – was ihn zu einemder ältesten Gasthäuser der Stadt macht. Jürgen Neumann führt den Betrieb seit 30 Jahren – und hat mittlerweile fast ein kleines Museum geschaffen.
Vergilbte Tesafilmstreifen halten die dünne, gut 80 Jahre alte Speisekarte zusammen, die zeigt, was bei den Kumpels und Arbeitern früher auf den Tisch kam: Schweinekotelett mit Kartoffelsalat gab’s für 75 Pfennig, das Glas hausgemachte Himbeerlimonade – an industriell gefertigte Getränke aus Übersee war noch nicht zu denken – erfrischte für 20 Pfennig.
Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein im Michelshof an der Steubenstraße. Ein Freund des Hauses tauscht an diesem Morgen gerade ein paar beschädigte Linoleum-Platten durch neue aus. Sonst aber gleicht alles in der schon 1903 errichteten Gaststätte mittlerweile einem Museum, das ein gutes Stück Thekengeschichte des Südostviertels erzählen kann.
Pfefferpotthast am Vormittag
„Ich bin erst der dritte Wirt hier“, erzählt Jürgen Neumann, der die Traditionsgaststätte seit 30 Jahren führt. Damals hatte er schon vormittags um 9.30 Uhr geöffnet, „da kamen die ersten Malocher von Zollverein und der Zeche Katharina vorbei, um Bohnen mit Speck oder Pfefferpotthast zu essen“. Solche Öffnungszeiten würden sich heute gar nicht mehr lohnen, sagt der gelernte Küchenchef, der nach seiner Ausbildung im damaligen Kaiserhof in der Innenstadt „quer durch die Welt tingelte“ und in der gehobenen Gastronomie arbeitete. 1984 aber, Neumann ist ein junger Mann von gerade Ende 20, findet er im Michelshof sein Zuhause.
Pferdegeschirre, Grubenlampen, Bergwerks-Helme, Schwarz-Weiß-Bilder der Essener Prinzengarde, die bis heute regelmäßig im Michelshof einkehrt: Kaum ein Zentimeter in dem Gastraum ist frei von Erinnerungsstücken, die sich durch die vielen Stammgäste im Laufe der Jahre ansammelten. Der älteste von ihnen ist 95 Jahre alt und erlebte alle Wirte im Michelshof. 95 Prozent des Publikums seien Stammgäste, schätzt Neumann, der bei aller Liebe zur Tradition gastronomisch mit der Zeit geht. So bietet er Omas Pfannkuchen ebenso an wie spanische Tapas.
Speisekarten als Dämm-Material
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Vielmehr sei aber die persönliche Bindung zu den Gästen das Erfolgsgeheimnis der Gaststätte, die nach ihrer teilweisen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg 1953 wieder neu aufgebaut wurde. Etwa zehn Jahre später kaufte Bauunternehmer Emil Neumann das Haus – und vermachte es schließlich Sohn Jürgen. Der renovierte die Gaststätte 1984 und fand dabei unter anderem eben die alten Speisekarten, die im Gemäuer als Dämm-Material verwendet worden waren. „Diese Gaststätte“, sagt Neumann, „hat noch eine Seele“. Und manches ändere sich eben nicht – das Herrengedeck aus Pils und Samtkragen gehört so bis heute zu den Klassikern bei den Bestellungen. Natürlich sei das Geschäft ein härteres geworden. „Der Zuspruch meiner Gäste, die seit Jahrzehnten hierher kommen“, sagt Neumann, „ist aber jeden Tag wieder Ansporn, weiter zu machen“.
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