Essen-Rüttenscheid. . Die 88-jöhrige Ursula Brinker besuchte das Parkhotel, das ihr Vater 1937 als Bürogebäude erwarb. Gut 70 Jahre hatte sie keinen Fuß mehr in das Haus gesetzt. Auch eine andere Familie hat noch Erinnerungen an die Kindheit an der Alfredstraße.

Es ist fast kindliche Freude, die in Ursula Brinkers Augen aufblitzt, als sie das Foyer des Parkhotels an der Alfredstraße betritt. „Der Empfangsraum sieht noch so aus wie früher“, sagt die 88-Jährige erleichtert. Nur die riesige Linde, die viele Jahrzehnte direkt vor dem Erker-Türmchen stand, ist seit dem vergangenen Herbst verschwunden – aus Sicherheitsgründen.

Wo in die 1930er-Jahren der Hausmeister wohnte, findet sich heute der Sailors Pub, den Martina Lotz und Stephan Klose ebenso wie das Parkhotel seit fünf Jahren betreiben. Seit der Zweite Weltkrieg das Gebäude nahezu komplett zerstörte, hat Ursula Brinker keinen Fuß mehr in das Haus gesetzt. Die Neugier siegte, als sie unsere Serie „Geschichten aus Stein“ entdeckte.

Es war eine denkbar ungünstige Zeit, in der ihr Vater, Ingenieur Karl Brinker, um 1936 nach einem neuen Bürogebäude für seine Druckregel-Anlagen-Firma „Spuhr & Co.“ suchte: „Mein Vater hatte eigentlich Fabrikation und Verwaltung auf dem späteren Coca-Cola-Gelände zusammenziehen wollen. Ein Besuch mit seinem Architekten in Berlin, wo man damals den entsprechenden Antrag stellen musste, hielt ihn von diesem größeren Vorhaben aber ab. Ihm war klar, dass es Krieg geben würde“, erinnert sich Ursula Brinker. Die Deutsche Bank habe ihrem Vater um 1937 das Haus an der Alfred­straße zum Verkauf angeboten. „Vier jüdische Familien, die dort gelebt hatten, saßen damals bereits auf gepackten Koffern: Baum, Buchsbaum, Rindskopf und Lazarus. Diese Namen habe ich bis heute nicht vergessen“, sagt Ursula Brinker. Wenig später seien die Familien in die USA geflohen.

Verkehr auf der B224 nahm zu

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Auch die damalige Oberstufenschülerin Ursula holt der Zweite Weltkrieg bald ein: „Alle Schulen in Essen waren geschlossen – auch das Grashof-Gymnasium, wo ich kurz vorm Abitur stand.“ Ihr Vater stellte einen Raum im Geschäftshaus an der Alfredstraße zur Verfügung, damit seine Tochter und ihre Mitschülerinnen zumindest in Mathematik unterrichtet werden konnten. „Der NSDAP war das ein Dorn im Auge, sie verbot es nach kurzer Zeit und ich musste 1943 zur Kinderlandverschickung nach Prag.“ Kurz zuvor hatte sie mit ihrem Vater noch einige Schreibmaschinen und Dokumente aus dem Geschäftsgebäude gerettet: „Nur zwei Tage später wurde ein großer Bombenangriff auf Essen geflogen und das Haus nahezu komplett zerstört.“

Karl Brinker entscheidet sich nach Kriegsende für einen Neuanfang mit seiner Firma an der Maxstraße, wo er seine Fabrik und die Verwaltung wieder zu einem erfolgreichen Unternehmen aufbaut, das seine Tochter später übernimmt. Die vom Krieg in eine Ruine verwandelte Immobilie an der Alfredstraße verkauft Brinker 1947 an den Geschäftsmann Gerhard Kersten – lange Zeit eine Essener Institution, wenn es um Bürobedarf und -maschinen ging.

Fahrrad gehütet wie einen Schatz

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Dessen Kinder, Sigrid Narayan (72) und Jürgen Kersten (77), erinnern sich heute noch gut an die ersten Jahre in der mit dem Wiederaufbau beschäftigten Stadt: „Wir waren evakuiert worden und kamen 1949 mit unserer Tante und Großmutter aus dem Weserbergland zurück. Da hatte mein Vater das Haus bereits wieder im Originalzustand aufgebaut. Ich bekam das schönste Zimmer – mit dem Erker-Türmchen unterm Dach“, sagt Jürgen Kersten. Seine Schwester weiß noch, dass sie ihr erstes Fahrrad – „das musste man früher hüten wie einen Schatz“ – immer über die Treppe in ihr Zimmer hoch hievte.

1960 verkaufte ihr Vater Gerhard Kersten das Haus jedoch wieder, „an einen Herr Graf, der das Parkhotel daraus machte“, weiß Jürgen Kersten. Der Grund für den Umzug? „Der Verkehr auf der B224 nahm immer mehr zu. Es war uns einfach zu laut.“

Weitere Folgen der Serie "Geschichten aus Stein" finden Sie hier.