Essen-Rüttenscheid. . Ingrid Schnaus wuchs in dem Eckhaus an der Emmastraße auf, in dem schon ihr Vater ein Schneider-Atelier hatte. Stoffe spielen dort auch heute noch eine große Rolle: So eröffnete erst Mitte Juli die Boutiqe „Fräulein Plissé“.

Die massive Standuhr aus dem Jahr 1895 läutet mit Getöse die nächste volle Stunde ein. Dennoch scheint es, als wäre die Zeit in der Jugendstilvilla an der Emmastraße/Ecke Reginenstraße stehen geblieben, wenn Ingrid Schnaus lebendig von ihren Erinnerungen erzählt.

Ihr Großvater August Becker kaufte das 1903 erbaute Eckhaus 1925; im gleichen Jahr heirateten ihre Eltern. Ingrid Schnaus kann sich noch gut an das Schneider-Atelier ihres Vaters erinnern. Wo heute ihr Esszimmer ist, war damals der Ankleidebereich, nahm ihr Vater Maße und wählte die Stoffe aus. „Ich habe als junges Mädchen immer mitgeholfen. Dafür habe ich die schönsten Kleider bekommen. Später in den 1960er-Jahren sogar die ersten Hosenanzüge“, sagt Ingrid Schnaus, die bis heute in der elterlichen Wohnung lebt.

„Schöne Kindheit“ in der Nachkriegszeit

Auch interessant

Viele Erker, eine Anrichte der Ur-Großeltern und eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von deren Hochzeit 1895 versprühen noch immer den Glanz vergangener Zeiten. Die wurden durch den Zweiten Weltkrieg jäh unterbrochen. Ingrid Schnaus wurde als Mädchen in die Rhön – der Heimat ihrer Eltern – evakuiert, kehrte 1945 zurück nach Rüttenscheid: „In der Nachbarwohnung haben meine Tante und mein Onkel mit sechs Kindern auf 67 Quadratmetern gelebt“, erinnert sich Ingrid Schnaus. Eine Brandbombe hatte das Dach zerstört, Wände waren eingefallen. Familie Schnaus machte das, was alle deutschen Familien damals taten: Rappelte sich auf und begann mit dem Wiederaufbau.

Die heutige Rentnerin denkt dennoch nicht mit Schrecken an eine Kindheit voller Entbehrungen, sondern mit Freude an die Jahre zurück: „Hier im Haus haben 15 Kinder gelebt. Wir haben draußen auf der Straße zwischen den Trümmern Hinkelkästchen gespielt – und sind die Reginenstraße mit den Rollschuhen meiner Cousine herunter gebraust – jeder mit nur einem Rollschuh am Fuß, wir hatten nur ein Paar.“

Gewerbe hat Tradition

Auch interessant

Ihre Cousine lebt ebenfalls bis heute in dem Haus, in dem fünf Wohnungen und zwei Ladenlokale untergebracht sind. Gewerbe jedweder Art hatten an dieser Adresse schon immer gute Tradition: „Hier war ganz früher ein Kohlenhandel im Erdgeschoss untergebracht, schließlich Schreibwarengeschäfte und Weinhandel und länger als 40 Jahre ein Friseur“, weiß Schnaus. Auch die Damen des Woll-Fachgeschäfts „Maschenfantasie“ starteten an der Straßenecke, zogen mittlerweile aus Platzgründen auf die gegenüberliegende Seite. Mitte Juli öffnete die Designerin Bettina Steinacker dort ihre Boutique „Fräulein Plissé“, in der sie selbst geschneiderten Nostalgie-Chic anbietet – ebenso, wie Schnaus’ Vater damals. Da kann die alte Wanduhr im ehemaligen Ankleidezimmer ruhig weiterschlagen – manche Dinge ändert die Zeit eben nicht.

Weitere Folgen der Serie "Geschichten aus Stein" finden Sie hier.