Essen-Südviertel. . An der Schubertstraße leben vier Generationen unter einem Dach. Seit einem Jahr setzen die Massings das prächtige Stadthaus, das ihr Ur-Ahn 1905 kaufte, wieder instand. Dabei kommt so manche fast vergessene Geschichte wieder ans Licht.
In fein geschwungenen Lettern sind gut 20 Kindernamen auf den beiden Messingschildern graviert, die demnächst wieder an das Holz-Reisebett von 1905 geschraubt werden. Auch Silke Massing träumte Anfang der Sechziger in dem historischen Mobiliar, wo aktuell Enkelin Marlene (3) in den Schlaf gesungen wird. In der Villa an der Schubertstraße, die Massings Ur-Großvater 1905 kaufte, erzählt jeder Winkel Geschichte.
„Eigentlich wollte zu dieser Zeit ein vermögender Essener Kaufmann das Haus seiner Tochter zur Verlobung schenken. Die Hochzeit platzte jedoch und so erwarb mein Ur-Großvater das Haus im Rohbau“, weiß Massing. Seit gut einem Jahr setzt die Hebamme das Stadthaus, das ihre Architektin als „wilden Stilmix“ bezeichnet, anhand alter Aufnahmen wieder instand. „30 Jahre ist hier nichts passiert. Mein Großvater hat das Haus in den Sechzigern leider zeitgemäß renoviert“, sagt sie.
Die riesigen Fenster wurden durch Glasbausteine ersetzt, das Treppenhaus und seine mit Blumen-Intarsien verzierten Säulen mit dunklem Holz verkleidet. „Das war früher modern. Aus heutiger Sicht natürlich ein Fehler“, sagt Massing, die bei ihrem ehrgeizigen Vorhaben auf tatkräftige, weibliche Unterstützung zählen kann: Mit im Haus leben Mutter Sigrid, ihre drei Töchter (20, 23, 25) und eben Enkelin Marlene: „Unsere Familie war immer frauengeprägt. Meine Ur-Großmutter hatte elf Schwestern“, erzählt Massing.
Legende um Keramikteller
Die Sanierung des Hauses, das den Zweiten Weltkrieg abgesehen von einem Dachschaden nahezu unversehrt überstand, ist für die 52-Jährige eine echte Herzensangelegenheit: „Die Alternative wäre ein Abriss gewesen. Das hätten wir alle nicht gewollt“, so Massing, die das Lebensgefühl aus dem vergangenen Jahrhundert nun geschickt mit modernem Wohnen verknüpft.
Neben ihrer ebenerdigen, gläsernen Dusche steht eine Personenwaage von 1899. Die alten Heizkörper mit Jugendstil-Elementen konnten fast im ganzen Haus erhalten werden.
Um die farbenprächtige Decke ringt Massing noch mit dem Bauamt: „Mein Großvater war Kaufmann für Tapeten und Bodenbelege. Er hatte einen Blick für Farben und Muster, das würde ich gern erhalten.“ Sogar die ursprünglichen Messing-Griffe brachte sie wieder an den neuen Fenstern im riesigen Hausflur an. Und selbst jener Teller existiert noch, der nach Massingscher’ Familienlegende das Haus in der Bombennacht vom März 1943 rettete: „Eine Brandbombe flog durchs Dach. Ein Ur-Onkel beförderte sie mit einem Keramikteller in den Garten, ehe sie detonierte“, weiß Massing aus Erzählungen.
Trümmerbeseitigung mit Familie Heinemann
Ihre Mutter Sigrid kann unzählige solcher Geschichten erzählen. Die gebundenen Kriegstagebücher ihres Vaters Ernst-August Schröder sind noch komplett erhalten, ebenso wie viele Schwarz-Weiß-Bilder, die Einblicke in die Familienhistorie geben. Sie zeigen etwa „Oma Hämsterken“, die bekannt war für die Taschen im Unterrock, mit denen sie nach dem Krieg „hamstern“ ging. Und sie zeigen die Trümmerlandschaft, in der Sigrid Massing groß wurde. „Meine Mutter hat gemeinsam mit den Heinemanns am Camillo-Sitte-Platz die Trümmer beseitigt“, erinnert sich Massing noch gut.
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Schönere Erinnerungen wohnen einem schweren Fotoalbum von 1913 inne. „Meine Ur-Großeltern unternahmen damals eine Schiffsreise von Hamburg über Schottland, Island und Spitzbergen nach Hammerfest in Norwegen“, erzählt Silke Massing. Genau 100 Jahre später begeben sich die Massing-Frauen bald auf die gleiche Reise. Mit allen vier Generationen an Bord.Tradition verpflichtet eben.
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