Haarzopf/Rüttenscheid. . Der Haarzopfer Werner Schmitz (88) erinnert sich an seinen Kindergarten an der Norbertstraße, der in den 1920er Jahren von Nonnen geführt wurde. Das Gebäude erkannte der Senior auf einem Zeitungsfoto wieder - und sofort fielen ihm viele Geschichten aus seiner Jugend ein.
„In diesem Kloster befand sich der Kindergarten von St. Ludgerus, den ich besucht habe, der damals einzige katholische Kindergarten im Umkreis“, erklärt Werner Schmitz. Der 88-jährige Haarzopfer entdeckte im Rahmen der Berichterstattung zum 100-jährigen Bestehen der Messe Essen ein Foto von 1927 in unserer Zeitung, das neben den Messehallen an der Norbertstraße eben dieses Kloster zeigt.
Anhand von Schmitz’ privatem Fotoalbum kann man die Stationen seines Lebens, zu denen auch der Besuch jenes Kindergartens gehört, gut nachvollziehen - ein Leben, das geprägt war von der glücklichen Kindheit am Rande der Stadt - „man konnte auf der Straße Fußball spielen, da fuhr kein Auto“ - und den schrecklichen Ereignissen des Krieges. Beim Blättern im Album stößt man auf die Kindergartengruppe, festlich gekleidet in Matrosenanzügen und Kleidchen, und ein paar Seiten weiter auf ausgebombte Häuser und zerstörte Straßenzüge.
Im Album findet sich auch ein Bild mit der fast identischen Ansicht des Zeitungsfotos, allerdings aus dem Jahr 1938. „Dort ist die Mitte der 1930er Jahre gebaute Eissporthalle zu sehen, die für uns als junge Leute eine Art Heiratsmarkt war. Beim Schlittschuhlaufen konnte man nämlich gut Mädchen kennenlernen“, grinst der Senior. Kloster und Eishalle seien gegen Kriegsende den Bomben zum Opfer gefallen.
Bereits 1894 hatte man in der damals neu gegründeten Gemeinde St. Ludgerus die Notwendigkeit erkannt, Kinder professionell betreuen zu lassen. Im sogenannten „Kleinen Klösterchen“ an der Norbertstraße hatten sich die Barmherzigen Schwestern von der Heiligen Elisabeth niedergelassen, um sich um Alte, Kranke und Kinder zu kümmern. „Mein Elternhaus war sehr katholisch geprägt. So wurde lange nur mein Namenstag, nicht mein Geburtstag gefeiert. Da ich Einzelkind war, legten meine Eltern Wert darauf, dass ich mit Gleichaltrigen zusammenkam“, erklärt Schmitz die Entscheidung der Eltern für den Kindergarten.
Auch später führten Schmitz die besonderen Umstände der Zeit wieder in das Kloster: „Als 1940 der Religionsunterricht an der Goetheschule, die ich besuchte, eingestellt wurde, fragte uns unser Religionslehrer, ob wir trotzdem weitermachen wollten. So fanden wir zu den heimlichen Religionsstunden im Kloster an der Norbertstraße zeitweise Unterschlupf.“
Nicht alle Träume erfüllten sich für Schmitz, der aus der Ehe mit seiner verstorbenen Frau vier Kinder hat und sein Leben heute mit Gefährtin Waltrud Schumacher (78) verbringt. „Ich hätte gern studiert, aber wir waren ausgebombt und meine Eltern konnten das nicht finanzieren“, bedauert der Wahl-Haarzopfer.
Er absolvierte eine kaufmännische Lehre, arbeitete beim Deutschen Kohlenverkauf, später für eine deutsch-schwedische Firma, bei der er schnell zum Prokuristen aufstieg. Mit 63 Jahren ging er in Rente. Sport war immer Schmitz’ große Leidenschaft - „ich war ein durchschnittlicher Schüler, aber in Sport hatte ich eine Eins“. Noch heute treibt der 88-Jährige dreimal in der Woche Sport - unter anderem beim Muskeltraining für Hochbetagte in Bredeney.
Werner Schmitz verbrachte die ersten zehn Lebensjahre an der Birkenstraße am Rand der Ulmenhof-Siedlung. „Von der Bergbau-Siedlung zogen meine Eltern an die Vöcklinghauser Straße/Ecke Isenbergstraße in Rüttenscheid um. Nicht nur, weil wir dort eine modernere Wohnung mit Strom, Toilette mit Wasserspülung, Balkon und Licht im Keller bekamen, sondern auch, weil dort das soziale Umfeld ganz anders war“, so Schmitz. Aus der Nachbarschaft seien damals die Hälfte der Kinder zur Mittelschule und zehn bis 15 Prozent zum Gymnasium gegangen, schätzt der Senior.
„Meine Eltern haben dort einfach bessere Chancen für mich gesehen“, sagt Schmitz. Der Wahl- Haarzopfer musste das Goethe-Gymnasium damals mit dem Notabitur verlassen, weil er eingezogen wurde. Nach zwei Jahren an der Front verbrachte er dreieinhalb Jahre „bei Wasser und Brot“ in Kriegsgefangenschaft im Baltikum und in der Ukraine, kehrte im November 1948 krank und ohne Berufsausbildung nach Hause zurück. „Da hatte ich noch Glück. Die Hälfte meiner Klasse ist im Krieg geblieben.“ Er selbst sei dem Tod zweimal knapp entgangen, habe nach einem Einschuss im Gesicht „mit eindreiviertel Beinen im Himmel gestanden“, wie ihm die Ärzte damals versicherten.