Essen-Rüttenscheid. . Krieg, Verfolgung, Flucht: Der 90-jährige Georg Gutberlett hat eine bewegende Geschichte erlebt. Bis heute schreinert er Holzfiguren, Pyramiden und Schwingbögen im Erzgebirge-Stil und spielt für Demenzkranke Harmonika. Dass die meistens deutlich jünger sind als er selbst, stört den Rentner nicht.
Unterkriegen lassen hat sich Georg Gutberlett nie. Nicht, als er sechs Jahre zur Jugendstrafe an die russische Front musste, weil er bei einer Abschiedsfeier mit seinen Freunden vor Beginn des Zweiten Weltkrieges Lieder gesungen hatte, die der SS nicht in den Kram passten. Auch nicht nach Kriegsende, als dem Elektriker vorgeworfen wurde, er würde Ersatzteile aus dem Westen nach Leipzig einschmuggeln, um damit ostdeutsche Kühlgeräte zu reparieren. Er fiel beim SED-Regime in Ungnade, „was nicht besonders schwer war“, wie er heute rückblickend sagt. Sogar seinen damals sechs und sieben Jahre alten Kindern wurde das Leben schwer gemacht. Selbst die Nacht-und-Nebel-Flucht gen Westen und der Neustart der jungen Familie mit nur zwei Aktenkoffern in Düsseldorf 1955 ließen Gutberlett nicht verzagen.
Ein Herz fürs Erzgebirge
Vielleicht sind es diese Kämpfernatur und der starke Lebenswille, die den 90-Jährigen, der in der vergangenen Woche Geburtstag feierte, bis heute so fit halten. Mit Sicherheit aber ist es auch sein Hobby, das ihn weit über Essen hinaus bekannt machte: Seit seiner Kindheit hat Gutberlett eine Schwäche für Holzarbeiten aus dem Erzgebirge: Schwippbögen, Weihnachtspyramiden, Räuchermännchen: Wie viele dieser Holzarbeiten er in den vergangenen Jahrzehnten gefertigt hat, vermag Gutberlett gar nicht zu zählen. „Holz hat mich einfach immer schon fasziniert“, sagt der Rentner, dessen Wohnung zur Weihnachtszeit einem Museum gleicht. Und weil der Platz zu Hause längst nicht mehr ausreicht, verschenkt der Rentner gerne. Die größten Weihnachtspyramiden mit einer Höhe von 2,75 Meter sind in der Weihnachtszeit im Leipziger und Essener Rathaus zu bewundern, zahlreiche kleinere Ableger in Kirchen und Altenheimen wie dem Augustinum.
Erst vor Kurzem schaffte sich der 90-Jährige eine neue Drechslerbank an, stellt in seinem Werk-Keller schon jetzt aus ausgedienten Nudelhölzern die ersten Engel für die Weihnachtszeit her. Gut zehn Jahre hatte er das Hobby aufgegeben, um seine schwer kranke Frau zu pflegen. „Da hatte ich einfach keine Zeit für andere Dinge“, sagt Gutberlett, der mit seiner 2009 verstorbenen Frau 63 Jahre verheiratet war. Nach dem Tod seiner Frau lässt er sich nicht hängen, engagiert sich ehrenamtlich. Bei den Demenzcafés der Familien- und Krankenpflege in Altendorf, Rüttenscheid, Borbeck und Werden ist er regelmäßig zu Gast, um auf seiner Harmonika zu spielen. „Die Besucher können alle alten Lieder wie Lili Marleen noch mitsingen, das ist immer schön anzuhören“, freut sich der 90-Jährige. Dass die Erkrankten meist jünger sind als er, nimmt er gelassen. „Ich bekomme dort so viel Anerkennung, das tut gut“, sagt er. Und auch seine Freizeit, die er gerne in Gesellschaft seiner Freundin Bernhardine Gombert verbringt, die er liebevoll „Berni“ nennt, gibt dem Rentner viel. Auch die 86-Jährige hält sich noch fit, schaffte sich etwa ein Elektrofahrrad an, nachdem sie ihren Führerschein abgegeben hatte. Zurzeit planen die beiden eine dreiwöchige Kur in Polen. Gebucht wird übrigens übers Internet. Denn, und das wundert kaum, auch die digitale Welt hat Georg Gutberlett nicht in die Knie gezwungen.