Essen. Die traditionsreiche Tanzschule Thielemann, zuletzt im Besitz von Wolfgang Brand, schließt Ende April für immer ihre Pforten. Das Haus an der Goethestraße wird abgerissen. An der Stelle soll ein Bürohaus entstehen.

Ende April heißt es Abschiednehmen von einer Essener Institution: Die Tanzschule Thielemann, seit 2004 geführt von Wolfgang Brand, schließt für immer ihre Pforten. Zehntausende von Schülern haben dort nicht nur Foxtrott, Langsamen Walzer und Cha-Cha-Cha erlernt, sondern auch erste Schritte auf dem gesellschaftlichen Parkett absolviert - und, vielleicht noch wichtiger, den Umgang mit dem anderen Geschlecht erprobt.

Schmetterlinge im Bauch, der erste Kuss, Klammerblues mit schwitzigen Händen, der erste Liebeskummer - oder ganz profan, blaue Flecken an den Füßen, weil der Tanzpartner die Schrittfolge doch nicht so ganz begriffen hatte - all das gehört an der Goethestraße bald der Vergangenheit an.

„Meine Tante, Witwe von Tanzschul-Gründer Hans Thielemann und Eigentümerin des Gebäudes, ist jetzt über 80 und hat das Haus an einen Duisburger Bauunternehmer verkauft. Der lässt es abreißen und baut dort ein mehrstöckiges Bürohaus mit 22 Tiefgaragenplätzen“, erläutert Kurt Thielemann, Neffe des Gründers und von 1970 bis 2004 mit seiner Frau Christa Inhaber der Tanzschule.

Trauer über den Abriss

Was der 72-Jährige, der ganz in der Nähe seiner alten Wirkungsstätte lebt, so nüchtern beschreibt, geht ihm in Wirklichkeit sehr nahe. „Es tut mir schon sehr weh. auch wenn wir ja nicht mehr aktiv dabei sind. Wenn das Haus abgerissen ist, werde ich da nicht mehr hergehen“, sagt der Rüttenscheider traurig - und hat für Mai sicherheitshalber Urlaub gebucht.

Nicht nur Kurt und Christa Thielemann bedauern das Aus der Tanzschule, die auch nach ihrem Ausscheiden den traditionsreichen Namen behielt. „Ich bin von vielen auf der Straße angesprochen worden, die das Ende sehr schade finden. Für viele war es bei uns offenbar die schönste Zeit ihres Lebens“, sagt Thielemann.

Standort Essen aufgegeben

Dem jetzigen Inhaber Wolfgang Brand sei das Haus an der Goethestraße zum Kauf angeboten worden. „Mein Sohn wollte die Räume aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht weiter mieten. Verhandlungen über einen Kauf scheiterten, und andere geeignete Räume in Rüttenscheid waren nicht zu finden, so dass wir den Standort Essen aufgeben und uns auf unsere Tanzschulen in Bochum und Hattingen konzentrieren“, erklärt Arno Brand, Vater des Inhabers, selbst Tanzlehrer und „Mädchen für alles“ im Familienbetrieb Brand.

Dass die Ära Thielemann so schnell nach ihrem Rückzug zu Ende gehen würde, hätten Thielemanns nicht gedacht. Vier Generationen haben ihre Tanzschule durchlaufen - und wenn es nach Kurt und Christa Thielemann gegangen wäre, hätten es gern noch ein paar mehr werden dürfen. Ihre eigenen Kinder „wollten was Richtiges“ lernen. Und so wurde der Sohn Jurist und die Tochter Diplom-Kauffrau. Die Tanzschule wollte keiner von beiden übernehmen. „Da waren wir froh, dass es mit den Brands erstmal weiterging“, sagt Kurt Thielemann.

Früher war Tanzen ein gesellschaftliches Ereignis

Die Bedeutung der Tanzschule habe sich verändert. „Der Besuch war früher ein großes gesellschaftliches Ereignis, aber da gab es auch für die Freizeit noch weniger Alternativen“, sagt Christa Thielemann. Damals, als die Jungs noch Anzug und Krawatte und die Mädchen adrette Kleider trugen, sich die jungen Leute untereinander siezten, die Kursteilnehmer Benimm-Regeln erlernten, Jungen und Mädchen in der Schule getrennt unterrichtet wurden und in der Tanzstunde erste zarte Bande knüpften - damals stand der Aspekt der Brauchtumspflege stärker im Vordergrund. Heute geht es beim Gesellschaftstanz eher um Entspannung.

Man habe einiges tun müssen, um die Tanzschule vom konservativen Image zu befreien, berichtet Christa Thielemann. Hip-Hop, Breakdance, später Zumba und aktuell sogar Kindergeburtstage - in der Tanzschule ist inzwischen vieles möglich. „Die Leute wollen heute eher Kurzkurse, sich für einen Zehn-Wochen-Kurs festzulegen, fällt vielen schwer“, so Christa Thielemann. Sie habe es immer genossen, eigene Kurse zu leiten und „ihr Ding“ zu machen. „Wenn ich nur als Assistentin fungiert hätte, wären wir heute nicht mehr verheiratet. Aber so hatte mein Mann seine Verehrerinnen und ich hatte meine Fans“, lacht sie und ist stolz darauf, viele junge Menschen „ins Leben geführt“ zu haben.

Schüler müssen sich entscheiden

Heute tanzen Thielemanns nur noch selten. „Wir können ja gar nicht zusammen tanzen, weil wir ja immer getrennt unterrichtet haben“, sagt Kurt Thielemann augenzwinkernd.

Für die Schüler bricht jetzt eine neue Zeit an: Einige wechseln samt ihrer Lehrer zu einer anderen Essener Tanzschule, andere folgen dem aktuellen Inhaber Brand nach Hattingen oder Bochum.