Rüttenscheid. . Die Schneidermeisterin Hildegard Lihs wird in Kürze 80. Ihr Rüttenscheider Atelier an der Friederikenstraße will sie noch möglichst lange behalten. Rente mit 67 ist für die rüstige Frau, die ihr Handwerk in Oberschlesien erlernte, nie ein Thema gewesen. Sie will so lange arbeiten, wie es ihr Spaß macht.
Alle reden von der Rente mit 67 - für Hildegard Lihs ist das kein Thema, denn die 67 hat die Schneidermeisterin mit eigenem Atelier an der Friederikenstraße längst überschritten. In einigen Wochen wird sie 80. Ans Aufhören denkt sie aber keineswegs. „Ich mache weiter, so lange es geht und es mir Spaß macht“, erklärt die rüstige Frau mit einem leichten polnischen Akzent. „Hoffentlich bleiben Sie uns noch lange erhalten“ - diesen Wunsch hat die 79-Jährige schon mehr als einmal gehört. 1947 ging sie in ihrer Heimat Oberschlesien bei einem deutschen Schneider in die Lehre. Und blieb ihrem Beruf bis heute treu.
„Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich mal was anderes machen muss, nahm einen Job im Büro an und musste mich von morgens bis abends mit Zahlen beschäftigen. Das war so schrecklich, dass ich nach zwei Wochen einfach nicht mehr hingegangen bin, ohne zu kündigen. Sollten die doch ihr Geld behalten“, erinnert sich Lihs, die auf der Margarethenhöhe wohnt und - wegen der schlechten Bahnverbindung - jeden Morgen mit dem Auto nach Rüttenscheid fährt. Auch weitere Strecken können sie nicht schrecken. „Ostern fahre sich wieder in meine Heimat in der Nähe von Kattowitz. Wenn alles gut läuft, schaffe ich die Strecke in elf Stunden, mache aber viermal Pause.“
1978 kam Lihs nach Essen. „Die beste Entscheidung war, sich selbstständig zu machen. Das Atelier hier habe ich 1981 eingerichtet, ein echter Glücksfall“, findet sie heute. Zwölf Nähmaschinen kann sie stellen, näht mit Mitarbeiterin Bettina Welling und bei Bedarf mit weiteren Helfern. „Von den Firmen, bei denen ich damals fast angefangen hätte, existieren die meisten heute schon nicht mehr.“
Seit 2000 ist Lihs verwitwet, drei Söhne hat sie großgezogen, aber immer gearbeitet. „Vielleicht sind die Kinder ein bisschen zu kurz gekommen, aber dafür waren sie sehr selbstständig, konnten sich sogar selbst Pudding kochen“, lacht die Wahl-Essenerin. Fünf Lehrlinge und einige Praktikanten bildete sie aus - und hatte immer ein Auge für besondere Talente. Mit 60 Jahren gab sie die Ausbildung auf: „Man weiß ja nie, wie lange es noch geht, und wenn man einen Lehrling annimmt, muss man ihn bis zum Abschluss durchschleusen“, begründet sie diesen Schritt.
Noch immer ist sie von montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr im Atelier. Für Hildegard Lihs eine Selbstverständlichkeit: „Was soll ich auch zu Hause, man kann ja nicht immer putzen.“ Am liebsten entwirft Lihs die Kleidungsstücke für ihre Kunden selbst. Aber: „Die Schneiderei ist ein Luxusgewerbe geworden“, sagt Mitarbeiterin Bettina Welling. Und ihre Chefin ergänzt: „Von Anfertigungen allein kann man nicht mehr leben. Deshalb ändern wir auch, modernisieren.“ Wichtig sei, dass das jeweilige Stück genau auf die Figur der Trägerin gearbeitet sei, findet Lihs. Am liebsten näht sie Ärmel und Schultern, auch wenn - oder gerade weil - das eine echte Herausforderung ist. Oft muss sie Dinge reparieren, die nicht fachgerecht geändert wurden. „Das ist Mord am Kleidungsstück“, ärgert sich Lihs .
Von der Stange kaufen - das kommt für die Fachfrau mit einer Vorliebe für schlichte, sportliche Kleidung durchaus in Frage, auch wenn sie die Sachen dann ändern muss.
An die Zeit in Polen erinnert sie sich mit gemischten Gefühlen: „Da gab es keine Modezeitschriften. Man musste alles aus dem Kopf umsetzen.“ Als Herrenschneiderin nähte sie alles, vom Pyjama bis zum Mantel, später auch Kleider, Braut- und Abendroben. „Schade, dass ich mir davon keine Fotos habe geben lassen. Da waren schon tolle Sachen dabei.“ Aber die Stoffe, die seien vor 60 Jahren hart und steif gewesen. „Heute ist alles viel leichter und elastischer“, hat Lihs noch die Mäntel aus Soldatendecken in Erinnerung.