Rüttenscheid.
Der Autor Michael Wehner hat ein Buch über die Essener Kneipenszene von 1880 bis 1945 veröffentlicht.
Ein klassischer Kneipengänger scheint Michael Wehner (48) nicht zu sein. Jedenfalls nerven ihn die lauten Feiergeräusche der anderen Besucher einer Rüttenscheider Gaststätte, in der der Autor etwas über sein neues Buch „Korn, Blau, Tod - Essener Kneipengeschichte(n)“ erzählt: „Wie kann man sich nur so gehen lassen“, kommentiert er das Gegröle von den Nachbartischen. Was Michael Wehner eigentlich interessiert, sind Schank- und Konzessionsakten, sind alte Originalfotos und -speisekarten, sind Wirte, die weithin als Original bekannt waren, sind Schicksale vor und hinter der Theke, sind soziale Aspekte der Wirtshauskultur.
Der 1962 geborene Michael Wehner lebt seit seiner Kindheit in Essen. Als Historiker hat er zahlreiche lokalgeschichtliche Vorträge gehalten, sein Wissen über die Lokal- und Kulturgeschichte der Stadt weitergegeben. In seinem aktuell im Sutton-Verlag erschienenen Buch beleuchtet er auf 95 Seiten die Historie der Essener Kneipenszene, in der die Rüttenscheider Gastronomen schon immer eine bedeutende Rolle spielten.
Speziell widmet sich Wehner einem Bummel durch die Kneipenlandschaft von 1880 bis 1945, holte bei der Durchsicht von mehr als 200 Konzessionsakten aus dem Essener Stadtarchiv viel Interessantes über längst verschwundene Kaschemmen und beliebte Traditionsgaststätten, die teils noch heute existieren, ans Tageslicht. „Ich habe so viel Material gesammelt, da gibt es noch genug Stoff für weitere Bücher, vielleicht auf bestimmte Stadtteile bezogen“, hat Wehner schon die nächsten Projekte im Auge.
Ein Blick in die Bücher alter Brauereien eröffnete dem Autor viele Einsichten und brachte ihm die Zeit näher, in der die Stammkneipe, gerade in einer Arbeiterstadt wie Essen, für viele Menschen eine Art Wohnzimmerersatz war, ein Raum für Entspannung, soziale Kontakte und Amusement. Beengte Wohnverhältnisse, schlechte Heizmöglichkeiten und der Mangel an Unterhaltungsmedien hätten viele Bürger damals in die Gaststätten getrieben. Das Freizeitverhalten habe sich in den letzten 100 Jahren gravierend geändert.
Aber auch die negativen Seiten intensiver Kneipenbesuche verschweigt Wehner nicht: „Da herrschten schon teils sehr raue Sitten. So war der Kneipenbesuch von 1903 bis 1905 bis 23 Uhr beschränkt, damit die Betrunkenen nicht die Straßenlaternen demolierten.“ Und auch die damals so beliebten Tanzveranstaltungen mit Künstlerauftritten fanden nicht nur Freunde. So gab es Beschwerden, dass Kinder gefährdet seien, wenn „sie Künstler halbnackt im Fenster sehen“, so der Autor. Wehner berichtet vom Gesellenhaus, das weniger Gesellen verköstigte, als die Schankkonzession zum Verkauf von Hochprozentigem nutzte.
„Spannend ist ein Blick auf das damalige Rotlichtmilieu, das in Essen um 1900 durchaus blühte“, erklärt der Autor, der dieses Phänomen in seinem Kapitel „Von Zuhältern und Zockern - Rotes Licht in Essen“ ausführlich beschreibt.
Ebenso widmet sich Wehner der Kneipe als Ausflugslokal für Familien - in dem Kapitel „Hinaus in die Ferne mit Butterbrot und Speck“. „Früher unterhielt die Stadt sogar ein kommunales Restaurant“, berichtet Wehner von der Geschichte des Rüttenscheider Hofes. Rüttenscheid sei damals keineswegs der Stadtteil der Reichen gewesen, es habe dort sogar ein Armenhaus gegeben. So spannend Kneipengeschichte für ihn selbst ist, so sehr wundert sich Wehner, dass in einigen Gaststätten gar keine Erinnerung an den Gründer oder Namensgeber vorhanden sei. „Das ist natürlich schade“, findet der Historiker.