Essen-Rüttenscheid. . Rosemarie Blum lebt seit 62 Jahren in der alten Goldschmidt-Siedlung an der Köndgenstraße, die abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden soll.
Rosemarie Blum erinnert sich noch sehr gut an ihren Einzug in die Wohnung an der Köndgenstraße, sie war schließlich verliebt: „Das war 1954. Die von Goldschmidt hatten die Wohnung richtig schön für uns umgebaut, sogar mit Stuck an der Decke und neuen Böden und allem.“ Wer 62 Jahre später das gemütliche Wohnzimmer mit den dicken Teppichen, den filigranen Spitzendeckchen auf dem Tisch und der schweren Standuhr in der Ecke betritt, den nimmt die 90-Jährige bereitwillig mit auf eine Zeitreise.
Glück in Zeiten der Wohnungsnot
Ihr Verlobter Werner, der in der 1922 erbauten Siedlung groß geworden ist, arbeitet zunächst als Laborant bei Goldschmidt, wird später in den Außendienst befördert. So kommt er in den Genuss einiger Privilegien wie eben der 100 Quadratmeter großen Wohnung an einer guten, aber nicht luxuriösen Adresse, die damals noch Goldschmidtstraße lautet. Das Chemieunternehmen hatte die Immobilien für seine Angestellten im mittleren Dienst erworben. „Es herrschte ja Wohnungsnot damals. Deswegen war das ein echter Glücksfall, als ich mit meiner kranken Mutter hier einziehen konnte“, ist Rosemarie Blum bis heute dankbar. Ihre Mutter hätte so noch ein paar gute Jahre gehabt, ehe sie viel zu früh gestorben sei.
1955 heiratet Rosemarie Blum ihren Werner – „ein stattlicher, adretter Mann, der immer Hut und Anzug trug“ – im Rathaus in Bredeney standesamtlich, ein Jahr später kirchlich in der Ludgerus-Kirche. Gefeiert wird danach immer im heimischen Wohnzimmer. Mit selbst geschmierten Schnittchen und eingelegten Gurken aus dem großen Garten vor der Tür. Und natürlich Aufgesetztem aus dem Obst, das der Garten in ebenso rauen Mengen hergab. „Damals wurde ja noch nicht auswärts etwas angemietet so wie heute“, sagt Rosemarie Blum und fügt lachend hinzu: „Dafür haben wir hier aber eine Menge gefeiert.“
Die junge Frau Blum liebt ihr Zuhause schon damals – wegen der guten Nachbarschaft mit den anderen Goldschmidt-Familien – „wir Frauen haben uns immer zu Sekt und Kuchen getroffen“ – aber auch wegen der zentralen Lage. Sonntags unternimmt sie mit ihrem Mann oder Freundinnen gern Ausflüge in den Grugapark: „Da habe ich immer meine teuren, italienischen Pumps getragen, ich habe Lackschuhe so gern gehabt!“, sagt Rosemarie Blum und blickt fast enttäuscht auf ihre Gesundheitsschuhe herab: „Ein Jammer, dass das heute nicht mehr geht.“
Der große Garten war immer der Mittelpunkt
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1961 bringt sie zur besten Babyboomer-Zeit ihren Sohn Holger zur Welt, der eines von vielen Kindern in der Siedlung ist. Gespielt wurde auf der Straße. Fußball in Lederhosen. Damals noch ein ungefährliches Vergnügen, denn Verkehr gab es kaum. Früher, da sei das Quartier rund um die Eduard-Lucas-, Köndgen-, Flora- und Joseph-Lenné-Straße noch ein eigener Kosmos gewesen: „Man musste nicht raus aus dem Pudding: Hier gab es einen Metzger, ein Büdchen, einen Gemüseladen und auch einen Friseur an der Ecke.“
Der Mittelpunkt aber war immer der große Garten, der damals noch in viele Parzellen aufgeteilt war und vor allem in der Nachkriegszeit die Versorgung sicherte. „Später haben wir Blumen gepflanzt. Nach dem Abriss der Altenhof-Siedlung in den 1970er-Jahren hat mein Mann viele Sträucher gerettet und hier wieder eingesetzt, viele fangen demnächst wieder an zu blühen“, sagt Rosemarie Blum und lächelt. 2003 starb ihr Mann, der bis heute bei den Nachbarn für seine Scherze berüchtigt ist. Er sei einfach friedlich eingeschlafen, sagt die Ur-Einwohnerin. Niemand sonst lebt so lange in der Siedlung wie sie: „Wir haben immer gehofft, dass wir die Wohnung eines Tages kaufen können.“
Anfang März flatterte das Kündigungsschreiben der Wohnungsgesellschaft Vivawest ins Haus, die die Gebäude abreißen und durch moderne Neubauten ersetzen will. Bis spätestens November braucht Rosemarie Blum nun einen Plan B für ihren Lebensabend. Die Anfrage für eine Abbruchgenehmigung sei eingegangen, aber noch nicht beschieden, teilte die Stadt gestern mit. Wenn es soweit ist, wird für Rosemarie Blum weit mehr einstürzen als ein paar alte Häuser.