Essen-Bergerhausen. . Philipp Nessling hat die Behindertenarbeit der Stadt wie kaum ein anderer geprägt. Mit 80 Jahren denkt er nicht ans Aufhören. Im Gegenteil.
„Wenn Menschen die Vielfalt lieben und wollen, dann kann Inklusion gelingen“, sagt Philipp Nessling. Der in Bergerhausen lebende Pfarrer gehört zu den Vorreitern in der Stadt, wenn es darum geht, ein Miteinander zu ermöglichen. So gehörte er 1986 zu den Mitbegründern des Integrationsmodells Essen und beschäftigte sich sein Leben lang mit der Frage, wie behinderte Menschen an Bildung und Kultur teilhaben können.
Obwohl er erst vor Kurzem seinen 80. Geburtstag feierte, denkt er gar nicht daran, seine Arbeit als erledigt anzusehen. Im Gegenteil: Im Gemeindezentrum Billebrinkhöhe plant er gemeinsam mit dem Integrationsmodell ein in der Stadt bislang wohl einzigartiges Projekt. Ab Januar soll dort ein Kunst- und Kulturzentrum entstehen, das behinderte und nicht behinderte Menschen gemeinsam nutzen. Ermöglicht wird das durch den Beschluss der evangelischen Gemeinde Bergerhausen, das 50 Jahre alte Haus auf der Billebrinkhöhe aufzugeben. Das strukturelle Defizit in Höhe von rund 100 000 Euro mache deutlich, dass die drei großen Zentren – Johanneskirche, Billebrinkhöhe und Weserstraße – für eine kleine Kirchengemeinde mit gerade 3500 Mitgliedern nicht zu finanzieren seien, heißt es in dem Bericht aus der Gemeindeversammlung.
„Mit unserem Vorschlag wird das Haus weiterhin ein Ort der Begegnung bleiben. Dank eines Sponsors kann das Haus in Teilen saniert werden, außerdem sind die Betriebskosten für die nächsten Jahre gedeckt“, freut sich Nessling, der mit dem Zentrum seine Jahrzehnte langen Bemühungen gemeinsam mit dem Verein kontinuierlich fortsetzt.
Erste Station in Katernberg
Es war wohl ein Semester während seines Studiums in Bethel, vermutet der Theologe, das ihn für die Arbeit mit Behinderten sensibilisierte. Während seiner ersten Vikar- und später Pfarrerstelle in Katernberg von 1960 bis 1972 entwickelte sich außerdem ein Schwerpunkt in der Kinder- und Jugendarbeit. „Der Bergbau florierte, es gab unglaubliche viele Kinder“, erinnert sich Nessling, der schließlich im Auftrag der Landeskirche den Konfirmandenunterricht modernisierte – auch für geistig behinderte Jugendliche. Nessling nahm an Fortbildungen teil und entwickelte das Konzept der integrativen Körperarbeit, mit dem die Körperwahrnehmung der Kinder und Jugendlichen über Partnerübungen gestärkt wird. „Ich habe es auch als seelsorgerische Aufgabe gesehen, die Kompetenz der Eltern zu stärken“, sagt Nessling, der mit seiner Ehefrau Irmgard Gessner selbst acht Kinder großzog. Darunter vier leibliche und vier Pflegekinder, die sie aus einer zerfallenen Familie bei sich aufnahmen.
Wie er dabei noch die Kraft für die herausfordernde Arbeit fand? „Es macht mir einfach Spaß, das tut es bis heute“, sagt der 80-Jährige, der 1984 die damals bundesweit erste Pfarrstelle für integrative Behindertenarbeit beim evangelischen Stadtkirchenverband Essen übernahm, die er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2000 mit Leib und Seele ausfüllte. Neue Wege in der Behindertenarbeit zu gehen und etwas zu wagen – diesem Credo entsprang 1986 auch die Vereinsgründung des Integrationsmodells. „Mir war damals aufgefallen, dass viele Eltern sich für ihre Kinder ein Erwachsenenleben wünschen, in dem sie nicht in einem großen Heim, sondern in kleineren Wohngruppen so eigenständig wie möglich leben“, nennt Nessling den Hauptantrieb. Als Modellprojekt entstanden wenig später die ersten beiden Wohngruppen. Heute sind es bereits 17, die sich über die gesamte Stadt verteilen. Ein Erfolg, der zeigt, dass sich Gesellschaft ändern kann, wenn sich jedes ihrer Mitglieder einen Ruck gibt.