Essen-Margarethenhöhe. . Die achtjährige Johanna Sokoll hat das seltene Rett-Syndrom. Nachbarn ermöglichten dem Mädchen und seiner Familie einen Karibik-Aufenthalt.
Johanna ist ein hübsches, fröhliches Mädchen. Aber: Die Achtjährige kann nicht sprechen, sie läuft und steht unsicher, hat keinerlei Bewusstsein für Gefahren. Johanna hat das seltene Rett-Syndrom, eine spontane Gen-Mutation, unter der deutschlandweit etwa 2000 Menschen leiden. Dass Johanna in diesem Jahr trotz ihrer Krankheit Fortschritte machte, ist auch engagierten Nachbarn von der Margarethenhöhe zu verdanken. Die sammelten Geld, damit das Mädchen eine Delfin-Therapie machen konnte.
Johanna kuschelt sich an Mutter Lena Sokoll (36), strahlt über das ganze Gesicht. Das Mädchen scheint die Gespräche um sie herum zu verstehen, doch sie kann sich nur mit Hilfe eines Computers verständigen, der ihre Blicke in Sprache beziehungsweise Schrift umsetzt. Johanna liebt Tiere. Nicht nur Birdie, den Golden Retriever der Familie, und die beiden Katzen.
Ergotherapie mit Pferden
Einmal pro Woche absolviert die Achtjährige in Mönchengladbach eine Ergotherapie mit Pferden. „Dass Johanna eine besondere Beziehung zu Tieren hat, haben wir in einer Phase gemerkt, als sie auf nichts reagierte, aber die Pferde der Messe Equitana ihre Aufmerksamkeit so stark erregten, dass sie sich aufsetzte“, erinnert sich Vater Pascal Sokoll (38). Er ist überzeugt, dass Tiere instinktiv anders auf behinderte Menschen reagieren. Schwester Pauline (7) könne sich dem Hund gegenüber auf jeden Fall weit weniger herausnehmen als Johanna.
Lena und Pascal Sokoll haben Kontakt zur Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom, die sich auch in NRW um betroffene Familien kümmert. Als sie dort von einer speziellen Art der Delfin-Therapie mit familientherapeutischem Konzept und psychologischer Beratung unter anderem für Rett-Syndrom-Patientinnen und ihre Angehörigen auf der Karibikinsel Curaçao hörten, waren sie sofort begeistert. „Das schien uns genau das Richtige für Johanna zu sein“, sagt Pascal Sokoll. Das Problem: Eine solche zweiwöchige Reise koste für die vierköpfige Familie zwischen 10.000 und 12.000 Euro. Familie Sokoll richtete ein Spendenkonto ein, schrieb Stiftungen an, Freunde engagierten sich, Verwandte ließen sich zu Geburtstagen Geld schenken mit dem Ziel „Delfin-Therapie für Johanna“.
Standfestigkeit, Konzentrations- und Kommunikationsfähigkeit
Dreimal konnte die Familie so die Delfin-Therapie finanzieren, die nicht nur Johanna förmlich aufblühen ließ. Das Mädchen hatte großen Spaß an den Bewegungsübungen an Land und im Wasser an der Arbeit mit den Delfinen, baute ihre feinmotorischen Fähigkeiten aus, verbesserte ihre Standfestigkeit, Konzentrations- und Kommunikationsfähigkeit.
„Besonders auffällig ist, dass Johanna nach der Delfin-Therapie Blickkontakt mit anderen Menschen halten kann, was früher undenkbar war“, erklärt der Vater. Für die Familie, deren Alltag aufgrund von Johannas Behinderung stark durchstrukturiert ist, bedeutete der zweiwöchige Urlaub Entspannung. „Auch für die Geschwisterbeziehung zu Pauline hat das unheimlich viel gebracht“, so Lena Sokoll. Man dürfe nicht zuviel erhoffen, wenn man sich auf das Abenteuer einer solchen Delfin-Therapie einlasse. Sie jedenfalls, beteuern die Sokolls, seien jedes Mal sehr positiv überrascht worden.
Chancen der Delfin-Therapie
Um vielleicht ein viertes Mal die Chancen der Delfin-Therapie nutzen zu können, kam Pascal Sokoll auf die Idee, eine Spendendose im Getränkemarkt Rebstock an der Sommerburgstraße aufzustellen. Die Inhaber, die die Familie seit langem als Kunden kennen, hatten nichts dagegen. Ganz im Gegenteil. Barbara und Michael Santuario, die jetzt in der Adventszeit Pommes, Bratwurst und Currywurst am Grillwagen zugunsten von Johanna verkaufen, freuten sich, dem Mädchen aus der Nachbarschaft helfen zu können. „Sonst spendet man ja oft für Menschen, die man gar nicht kennt.“
Was im Frühjahr passierte, kann Pascal Sokoll noch immer kaum glauben. Der Inhaber des Getränkemarktes sprach ihn an, wollte ein Frühjahrsgrillen mit Live-Musik im größeren Stil vor dem Getränkemarkt organisieren – und das alles zugunsten der kleinen Johanna. Eine Idee mit Schneeball-Effekt: Die Motorrad-Garage Margarethenhöhe schloss sich an, die Band trat ohne Gage auf, der Kindergarten organisierte eine Schminkaktion, eine Hüpfburg lud zum Toben ein. „So kamen über 2000 Euro zusammen, was den Ausschlag gab, dass wir in diesem Jahr zu Ostern Johanna die vierte Delfin-Therapie ermöglichen konnten“, ist Pascal Sokoll immer noch ganz überwältigt von soviel nachbarschaftlicher Hilfsbereitschaft.
Im nächsten Jahr werden die Sokolls mit Johanna wohl nicht in die Karibik fliegen, denn ihre Tochter hatte im Herbst erste kleine Krampfanfälle, typisch für das Rett-Syndrom, auf die sich Johanna und die Familie einstellen müssen. Der lange Flug wäre in diesem Stadium zu risikoreich, so die Eltern. Aber wer weiß, vielleicht geht es ja 2016 wieder zu den Delfinen, die Johanna so sehr liebt.
Diagnose Rett-Syndrom
Johanna ist ein Christkind, feiert am 24. Dezember Geburtstag. Wie ihre Schwester Pauline besucht sie die Waldorfschule in Stadtwald, den Heliand-Zweig für Kinder mit besonderem Förderungsbedarf. Dass sie sich soweit entwickelt hat, ist für die Eltern ein kleines Wunder. Als sie die Diagnose Rett-Syndrom erhielten, brach erstmal eine Welt zusammen. Im ersten Lebensjahr hatte sich das Mädchen ganz normal entwickelt. „Sie hat spät gekrabbelt, doch das war kein Grund zur Sorge für uns“, sagt Mutter Lena Sokoll, ausgebildete Opernsängerin, die heute im musikpädagogischen Bereich arbeitet und nur gelegentlich bei Konzerten mitwirkt.
Irgendwann stagnierte Johannas Entwicklung, nach dem Krabbeln lernte sie nicht laufen. Und nach Zwei-Silben-Wörtern wie Mama und Papa kam auch in Sachen Sprache nichts mehr. Johannas Fähigkeiten entwickelten sich sogar zurück. Sie konnte keine Buchseiten mehr umblättern, verlernte die Worte, die sie schon konnte. „Auch emotional war Johanna auffällig, schrie in dieser Phase viel“, berichtet Pascal Sokoll, der Offizier bei der Bundeswehr war und heute als Sozialarbeiter tätig ist – eine berufliche Veränderung, die irgendwie auch mit Johanna zu tun hat. „Ich habe mich gefragt, was mir wichtig ist im Leben und bin zu der Erkenntnis gekommen, dass ich lieber Menschen helfen und Zeit für die Familie haben will als viel Geld zu verdienen“, sagt der 38-Jährige. Eine medikamentöse Therapie geschweige denn Heilung für Rett-Syndrom-Patienten gibt es bislang nicht.
Die Familie, für die die Vernetzung mit anderen Betroffenen sehr wichtig ist, versucht, ein weitgehend normales Leben zu führen. „Ja, man kann auch unter diesen Umständen gut und erfüllt leben. Aber manchmal sind wir traurig. Das muss erlaubt sein.“