Essen. Faszination Kirchenglocke: Gerhard Reinhold hat ein Buch zur kulturgeschichtlichen Bedeutung veröffentlicht – eine Spurensuche auch in Essen.
Die große Leidenschaft von Gerhard Reinhold aus Essen-Überruhr sind Kirchenglocken, speziell die, die von der norddeutschen Glockengießerei Otto hergestellt wurden. Diese sind auch Teil der Essener Kirchengeschichte: 47 davon gibt es bis heute im Stadtgebiet – und Gerhard Reinhold kann zu jeder etwas erzählen.
Acht Jahre lang hat der heute 67-Jährige über Otto-Glocken geforscht, ein fast 600 Seiten starkes Buch veröffentlicht und zum Thema promoviert. Reinhold findet es traurig, dass Glockengeläut mit dem Abriss von Kirchen immer weniger zu hören ist – dabei sei es „die Klangsilhouette des christlichen Abendlandes“.
Komplett erhaltenes Geläut hängt in St. Elisabeth in Frohnhausen
Die historisch wertvollsten Glocken der Bremer Gießerei Otto, die 1973 die Produktion einstellte und seitdem nur noch Wartungsaufgaben übernimmt, seien in St. Elisabeth in Frohnhausen zu finden. Dort gebe es das älteste, noch komplette Otto-Geläut von 1884, das immerhin schon zwei Weltkriege überstanden habe. „Seltsam, dass heute so wenig Interesse an den Glocken besteht, die doch wichtiger Teil unseres Kulturerbes sind“, bedauert Gerhard Reinhold, der den Klang in der Stadt, zum Beispiel an Feiertagen wie Pfingsten, ganz bewusst wahrnimmt.
Neben dem Geläut von St. Elisabeth gebe es weitere bedeutende Otto-Glocken in Essen, zum Beispiel vor der ehemaligen Kirche St. Engelbert im Südviertel. Weitere Exemplare seien in Mariä Geburt, Dilldorf, St. Barbara, Kray, Mariä Geburt, Frohnhausen, St. Ludgerus, Werden, St. Ludgerus, Rüttenscheid, Kloster Schuir und St. Peter im Nordviertel zu finden.
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Für Glocken habe er sich schon lange interessiert, die Leidenschaft sei aber erst spät durch seinen Beruf entstanden, blickt der promovierte Religionswissenschaftler zurück. Nach einer Ausbildung im Verwaltungsbereich, der Pressearbeit für das Hilfswerk Adveniat und einem Studium der Wirtschaftswissenschaften sei er 20 Jahre lang Geschäftsführer des katholischen Gemeindeverbandes in Bottrop gewesen.
Nach der Besteigung von 120 Kirchtürmen war das Interesse geweckt
Im Zuge der Zusammenlegung von Gemeinden zu Großpfarreien hätten auch die Glocken der Kirchen im Fokus gestanden. „Die müssen ja aus Sicherheitsgründen regelmäßig gewartet werden“, sagt der Überruhrer. Die Glockenprüfung für sämtliche Kirchen sollte bei einer Firma gebündelt werden. So sei er mit der Firma Otto in Kontakt gekommen „Die machte damals einen sehr seriösen Eindruck, weil sie nicht sofort ein Angebot erstellte, sondern auf die Vielfalt der Glocken verwies, die man deshalb erst vor Ort betrachten müsse“, erinnert sich Reinhold – und bestieg in der Folgezeit von Amts wegen 120 Kirchtürme, fast alle im Bistum Essen und lernte ihre technischen Anlagen kennen. Je mehr er über die Glocken erfahren habe, desto stärker sei sein Interesse gewachsen.
Im Vorruhestand hatte Reinhold dann Zeit, sich wissenschaftlich mit dem Thema zu beschäftigen. So entstand das umfangreiche Werk „Otto-Glocken – Familien- und Firmengeschichte der Glockengießerdynastie Otto“. Die Glockengießerei Otto war 1873 gegründet worden und stellte rund 100 Jahre lang nach Gerhard Reinholds Recherche über 4300 Glocken her. „145 davon habe zeitweise in Essener Kirchen gehangen. Viele davon sind im Ersten und Zweiten Weltkrieg für die Waffenproduktion eingeschmolzen worden“, so Reinhold.
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Durch Kirchenschließungen sind Glocken übrig
„Als Ende der 1960/Anfang der 1970er Jahre fast alle Kriegsschäden an Glocken beseitigt und für den Krieg eingeschmolzene Glocken ersetzt waren, hatten die Glockengießereien nicht mehr viel zu tun. Auch die Zahl der Kirchenneubauten nahm ab“, so Reinhold. Das habe zum wirtschaftlichen Niedergang der Branche geführt, von dem auch die Glockengießerei Otto betroffen gewesen sei.
Aktuell würden auch in Essen keine neuen Glocken mehr benötigt, es seien im Gegenteil durch die zahlreichen Kirchenschließungen viele Glocken übrig. „So hat zum Beispiel die Kirche St. Hubertus in Bergerhausen, die selbst Stahlglocken hatte, die hochwertigeren und besser klingenden Bronzeglocken der Nachbarkirche St. Raphael übernommen, als diese abgerissen wurde“, erläutert Gerhard Reinhold.
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Es gibt nur 250 Exemplare des fünf Kilo schweren Buchs
Gerhard Reinhold hat im Sommer 2019 seine Doktorarbeit in Religionswissenschaft an der Universität Nimwegen/Niederlande zum „Kirchenglocken – christliches Weltkulturerbe, dargestellt am Beispiel der Glockengießer Otto, Hemelingen/Bremen“ abgeschlossen.
Den Bildband mit rund 600 Abbildungen hat Gerhard Reinhold im Selbstverlag herausgegeben. Das Buch, das der Autor seinen Enkelkindern gewidmet hat, ist fünf Kilo schwer und kostet 100 Euro (bei Zusendung plus Versand). Da nur 250 Exemplare gedruckt wurden, werde es mit Zertifikat ausgeliefert. Zu bestellen ist es unter info@ottoglockenbuch.de oder bestellen@ottoglockenbuch.de .
Manchmal versuchten Pfarreien auch, die Glocken aus den geschlossenen Kirchen zu verkaufen, um Geld in die Kasse zu bekommen. „Sie bekommen aber in der Regel den reinen Materialwert“, so der Glockenexperte. „Solche Verkaufsansinnen schockieren oft die Gläubigen, denn die Glocken wurden häufig durch Spenden aus der Gemeinde finanziert. Da fühlen sich die Leute manchmal regelrecht enteignet, wenn diese Glocken dann verkauft werden.“
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Der Autor sieht Glocken als größtes Freiluftinstrument
„Für mich sind Glocken das größte Freiluftinstrument. Sie sind das akustische Zeichen von Kirche, unglaublich aufwendig in der Herstellung“, beschreibt Reinhold die Faszination. „Aber ich bin kein Musiker, ich höre da keine bestimmten Töne.“ Ihn fasziniere der Gesamtklang, das Material, die handwerkliche Verarbeitung – die Glocke als Gesamtkunstwerk eben, deren Klang unseren Alltag noch immer begleitet.
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