Essen-Kray. . 1914 kommt sie an der Hochstraße zur Welt – als der OB noch Wilhelm Holle heißt und die „Dicke Bertha“ ein Geschütz ist und nicht die Gattin vom Wirt.

1914, ein Jahre voller wahrlich bahnbrechender Ereignisse. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist natürlich auch im seit langer Zeit von Oberbürgermeister Wilhelm Holle regierten Essen das beherrschende Thema, als am 5. November in der Schöllerskampstraße, die damals noch Hochstraße heißt, Zwillinge zur Welt kommen. Anna und Elisabeth Gießler, zwei fidele Mädchen. Die eine, Anna, ist lange tot, die andere aber, die Elisabeth, lebt seit Jahren und Jahrzehnten im beschaulichen Beiseling in Kray-Nord im Haus des Sohnes. Und heute ist für die alte Dame ein durchaus besonderer Tag, denn just am heutigen Donnerstag wird Elisabeth Kranz, wie sie seit 1939 heißt, 101 Jahre alt. Vivat, vivat.

Sechs Kinder, kaum zu essen. Das Leben für Familie Gießler im Jahre 1914 ist wahrlich alles andere als ein Zuckerschlecken. Das von einer wahren Kriegseuphorie erfasste Essen entwickelt sich mehr und mehr zur Waffenschmiede und Kanonenstadt, in der Kruppschen Gussstahlfabrik brummt die Produktion, und die „Dicke Bertha“ ist ein angsteinflößendes Geschütz und nicht die Frau vom Kneipenwirt.

Je länger der Krieg andauert, desto schwieriger wird das Leben auch für Elisabeth Gießler und ihre Liebsten. Hohe Lebensmittelpreise, niedrige Löhne, und im berüchtigten Steckrübenwinter 1916/’17 nimmt die Hungersnot auch in Essen fatale Ausmaße an. Elisabeth Gießler aber bleibt fröhlich, irgendwie zumindest, und heiratet 1939, just als der nächste gruselige Krieg vor der Tür steht, ihren Otto.

Das Leben bleibt karg und alles andere als einfach, Kraft aber tankt Elisabeth Kranz auch durch die regelmäßigen Besuche in der St. Barbarakirche. Dort war sie getauft worden, zur Heiligen Kommunion gegangen und zur Firmung, in dem Gotteshaus an der Barbarastraße hatte sie einst auch ihrem Otto das Ja-Wort gegeben und 1964 zudem Silberhochzeit gefeiert.

Sieben Enkel, acht Urenkel

Was folgt, sind mehr und mehr schönere und entspanntere Jahre. Die Kinder sind längst groß, auch die sieben Enkelkinder nicht mehr wirklich klein. Und seit auch die erwachsen und selbst Eltern sind, hat Elisabeth Kranz endgültig die Zeit, die ihr lange Jahre fehlte. Kinder großziehen, kochen, waschen, putzen. Was einst ihr klassisches Hausfrauenleben bestimmte, übernehmen längst andere. Und so hat die alte Dame einen Heidenspaß daran, wenn etwa die acht Urenkel vorbeischauen, die Zeit vertreiben und ihr Herz berühren. „Dann blüht sie regelrecht auf“, sagt einer, der es wissen muss, Sohn Johannes.

Vor genau einem Jahr, da gibt’s ein großes Fest zum 100. Geburtstag. In „Gantenberg’s Brauhaus“. An der Krayer Straße und natürlich in Kray, dem Stadtteil, dem sie stets treu geblieben ist. Lecker Essen, beste Stimmung – und das Foto mit den acht Urenkeln hat seitdem einen besonderen Platz in ihrer Wohnung.

Heute an ihrem Ehrentag wird’s ruhiger zugehen, die eine oder andere Aufwartung aber sicher geben. Genau wie den Eintopf, denn sie so liebt. Und wenn sie guter Dinge ist, dann geht Elisabeth Kranz noch immer in den Gottesdienst. Natürlich in St. Barbara, natürlich an der Barbarastraße, natürlich in Kray. Wie schon seit ewig und drei Tagen.

Die Stadt Essen und ihre 100-Jährigen:

Die Unterschiede sind auffällig. Am 30. September dieses Jahres lebten 145 Menschen in Essen, die 100 Jahre alt oder noch älter sind. Das jedenfalls ist die offizielle bei der Stadt gelistete Zahl. Ältester Mensch der Stadt im Sommer. Eine Frau, stattliche 108 Jahre alt. Von den 145 waren 126 Frauen und nur 19 Männer. Ein möglicher Grund: Viele der Männer, die 1915 oder eher zur Welt kamen, fielen im Zweiten Weltkrieg oder starben aufgrund harter Arbeit schon in jungen Jahren.