Bergeborbeck. .

Die Palliativpflege gilt als anspruchsvolles Feld, wirft die schmerzlindernde, medizinische Begleitung des Menschen in seinem letzten Lebensabschnitt doch besondere Probleme auf. Noch schwieriger, weil wenig erforscht, gestaltet sich dies bei der Betreuung Demenzkranker, deren Kommunikation eingeschränkt ist. Ein Projekt der Borbecker Schmerzhilfe will diese Lücke schließen.

„H.I.L.DE Palliativ“, so der Titel des Projekts, entspringt einer Idee von Prof. Hans Georg Nehen. Der Mediziner ist nicht nur Direktor der Klinik für Geriatrie an der Germaniastraße, sondern auch Vorstand des Vereins „Integrative Palliativversorgung Borbecker Schmerzhilfe“. Gemeinsam mit dem Allgemeinmediziner Karl Wagner möchte er Ärzten und Pflegepersonal ein Instrument an die Hand geben, das hilft, Krisensituationen in der palliativen Versorgung Demenzkranker besser zu meistern.

Dass diese Pionierarbeit dringend notwendig ist, liegt für beide Mediziner auf der Hand: „Je älter die Menschen werden, desto häufiger werden wir alle mit dem Thema Demenz konfrontiert“, sagt Prof. Nehen. „Vor 30 Jahren war dies längst nicht so ausgeprägt.“ Demenz stelle jedoch Ärzte gerade in der Palliativversorgung vor besondere Probleme. „Körperliche Symptome wie Schmerz, Übelkeit und Atemnot können von Demenz-Patienten oft nicht adäquat geäußert werden“, sagt Nehen. „Dies führt zu Angstzuständen, Panik und mitunter zu Aggression oder sogar Wahnvorstellungen.“

Nicht selten verordnen Ärzte Beruhigungsmittel oder leiten notfallmäßige Krankenhauseinweisungen ein. „Dies geschieht jedoch oft aus Unwissenheit, weil die emotionale Situation des Patienten missachtet oder nicht verstanden wird“, fügt Karl Wagner an. Man habe sich in der Vergangenheit nur wenig Gedanken über Gefühl und Emotion gemacht. „Dabei ist es für die Praxis eminent wichtig, das Wohlgefühl des Patienten zu erfassen“, weiß Wagner. „Dieser Umstand lieferte uns den Ansatz, daraus ein Konzept zu machen“, ergänzt Nehen.

Dieses Konzept basiert auf dem „Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität demenzkranker Menschen“, kurz „H.I.L.DE“ genannt. Dies erklärt den Namen des Projektes. „Hilde“ wurde vor Jahren entwickelt, um die Lebensqualität gerontopsychiatrisch erkrankter Menschen in Einrichtungen der Altenpflege besser zu erfassen. Ein Instrument, das sich in der Praxis längst bewährt hat. „Der erste Schritt unserer Arbeit bestand also darin, herauszufiltern, was wir aus diesem Instrumentarium gebrauchen können“, erklärt Prof. Nehen, der selbst an der Erarbeitung von „H.I.L.DE“ beteiligt war. „Wir suchen nach einer Modifikation, um es auf die spezielle Situation Demenzkranker adaptieren zu können.“

Die Zielsetzung des neuen Projektes formuliert Karl Wagner in drei Punkten: 1. Individuelle Wahrnehmung der ganzheitlichen, also der somatischen und psychischen Situation des Patienten. 2. Verbesserung der verbalen sowie nonverbalen Kommunikation zwischen Patient und Betreuern. 3. Aufzeigen der aus den Erkenntnissen resultierenden Konsequenzen für pflegerisches und ärztliches Handeln.

Die Mimik verrät viel

Zu diesem Zweck wurde Ärzten und Betreuern ein Erfassungsbogen an die Hand gegeben, um sie für die Reaktionen der Patienten zu sensibilisieren, diese Reaktionen besser zu deuten und um sie zu befähigen, zielgerichtig darauf reagieren zu können.

„Die Mimik verrät sehr viel über das Wohlbefinden des Kranken“, konkretisiert Karl Wagner. „Sie kann ein Indikator für die jeweilige Schmerzbelastung sein.“ Zusammengezogene Augenbrauen, verkniffene Lippen, aufgerissene Augen, angespannte Gesichtszüge, aber auch hängende Mundwinkel sowie ein aus- drucksarmes Gesicht können Indizien für Ärger, Angst und Traurigkeit des Patienten sein. „Zorn, Angst und Wut liegen außerhalb des Bewussten“, weiß Prof. Nehen. „Aus diesem Bereich erfahren wir mehr, als man denkt.“

Wichtig sei auch die genaue Beobachtung und Einschätzung der jeweiligen Stimmungslagen: Nach welchen Alltagssituationen fühlt sich der Patient besonders wohl, bei welchen besonders schlecht? Die Ergebnisse werden gesammelt und ausgewertet. Auch die Strategien, die Pfleger und Ärzte anwenden, um den Patienten aus der negativen Lage zu helfen. In der Quintessenz führt dies zu einer fundamentierten Einschätzung der Lebenszufriedenheit des Patienten, die Basis für weitere, sinnvolle Pflegemaßnahmen ist.

Erfahrungen und Resultate wie diese gehen auch in die Schulungen ein, die in der Tagesklinik an der Germaniastraße abgehalten wurden und werden. Die Reaktionen der Teilnehmer geben den Medizinern Recht: „Da gab es ehrenamtliche Helfer, die seit 15 Jahren Hospizarbeit leisten, doch nach eigenem Bekunden noch nie darüber nachgedacht haben, wie man ihre Erfahrungen wissenschaftlich fassen kann“, sagt Prof. Nehen.

Bei den Praktikern besteht also Bedarf. „Deshalb raten wir ihnen, sich auf ihr Gefühl einzulassen“, erklärt Karl Wagner. „Wir wollen aber auch ein Rüstzeug zur Überprüfbarkeit ihrer Arbeit schaffen. Dann besitzt man auch eine ganz andere Argumentationsebene bei den Krankenkassen.“

Ob dies gelingt, vermag auch Prof. Hans Georg Nehen nicht abschließend zu sagen. Lebensqualität sei nur schwer zu definieren. „Hilde ist dies in einem Teilbereich gelungen. Wichtig ist jedoch eines: Wir wollen weg vom ,Der Patient ist satt und sauber’ zu ,Der Patient fühlt sich wohl’. Damit wäre schon viel gewonnen.“

Regelmäßig finden sogenannte Palliativmedizinische Qualitätszirkel statt. Vier Mal im Jahr treffen sich alle Protagonisten, die an dem Projekt beteiligt sind: Ärzte, Pflegedienste und Hospizkräfte. Darin werden Inhalte und Erfahrungen ausgetauscht. Das nächste Treffen findet am Montag, 12. März, im Haus Berge-Krankenhaus statt.