Altenessen. .
Wer einen Fußball aus Leder hatte, war der König. Wer einen Eimer Kohle von der Zechenbahn klaute, konnte sich im Kolpinghaus für 30 Pfennige Dick und Doof ansehen und hatte noch zwei Groschen übrig. Und wer sich durch das Gewirr von unterirdischen Gängen bis zum Marienhospital durchschlug, der konnte die Helfer durch ein Loch in der Mauer beim Leichenwaschen beobachten.
Die Altenessenerin Brigitte Böcker (67) hat zehn Jahre lang am Buch „Bergmannssiedlung Altenessen ,Heim und Scholle’/Siedlungsleben der 40-50iger Jahre“ gearbeitet. Jetzt kann man es kaufen.
Stolz hält Brigitte Böcker ihr Buch in Händen, blättert hier ein wenig, dort ein wenig. Dann stoppt sie: „Da bist du. Du hattest immer ein Aua-Knie“, sagt sie. „Ja ja“, antwortet Heinz Leidreiter (70) und nickt. Wer aus dem kleinen Jungen mit Verband auf dem verblichenen Foto noch den heutigen Rentner erkennen will, braucht schon eine ganze Menge Fantasie. „Das war hier damals einfach eine tolle Zeit“, stellt er fest.
„Hier“, das ist – oder besser war – die so genannte Siedlung „Heim und Scholle“, ein Rechteck zwischen den Straßen Bausemshorst, Kolping-straße, Wolbeckstraße und Johanniskirchstraße sowie die angrenzenden Häuser auf der jeweils gegenüber liegenden Straßenseite. Mehr als 100 Kinder haben in den 1940er und 1950er hier gelebt, gespielt, sich gestritten und gekloppt. Brigitte Böcker und Heinz Leidreiter waren unter ihnen, sind zusammen im Haus an der Wolbeckstraße 72 groß geworden, in dessen Keller die Altenessenerin im Juli 1943 auf die Welt gekommen ist. Aufgewachsen sind sie wie Brüderchen und Schwesterchen, haben sich dann Jahrzehnte aus den Augen verloren und sich erst vor knapp 20 Jahren wieder getroffen: auch eine Geschichte für sich.
In den vergangenen zwei Jahren haben die Freunde seit Kindertagen ihr gemeinsames „Altersprojekt“ verfolgt. Bereits seit 1995 organisiert Brigitte Böcker jährlich Ehemaligen-Treffs der Siedlung. Fünf Jahre später fing sie an, die vielen Erinnerungen, Anekdoten und Daten niederzuschreiben, die dort wie aus einer unerschöpflichen Quelle sprudelten. Zahlreiche historische Fotos packte sie zusätzlich in ihre immer dicker werdenden Ordner. Natürlich hat Brigitte Böcker alles von Hand aufgeschrieben.
„Ich habe dann mehr als 100 Manuskriptseiten in den Computer eingegeben, Bilder gescannt und repariert und noch eigene Geschichten hinzugesteuert“, berichtet Heinz Leidreiter. Doch bis aus der stattlichen Datenflut ein richtiges Buch wurde, bedurfte es eines weiteren Ehemaligen.
„Unser ehemaliger Nachbar Hartmut Eickwinkel betreibt eine Industrie-Buchbinderei. Er war so begeistert von dem Projekt, dass er den Druck der ersten Auflage organisiert und auch bezahlt hat“, freut sich Brigitte Böcker. Für die engagierte Frau, die zwischen 1988 und 2000 die Siedlungstradition der Kinderschützenfeste aufleben ließ, schloss sich damit ein Kreis.
Nachdem ein Teil der Häuser mit dem Neubau der „Evonik“-Wohnanlage verschwunden waren, konnte sie der geliebten Kinderstube ein Denkmal setzen. „Es wäre viel zu schade, wenn alles verloren gehen würde“, sagt sie.
Und wenn man die unzähligen Anekdoten liest und die mehr als 100 Bilder betrachtet, muss man ihr Recht geben. Liebevoll dekorierte Kinder-Schützenwagen aus den 1940er Jahren, Zechenhäuser mit Taubenschlägen und den qualmenden Emil-Schloten im Hintergrund, die Bunker-„Abenteuerspielplätze“ der Kinder, die Altenessener Straße in den 1950er Jahren: All’ dies ist mehr als nur bloße Siedlungsgeschichte. Und hört man Brigitte Böcker und Heinz Leidreiter zu, wenn eine Erinnerung die nächste jagt, aber nur ein Bruchteil Platz im Buch findet, weiß man: Da ist noch mehr als genug Stoff für eine Fortsetzung.