Essener Gehörlosengemeinde feiert am Sonntag ihr 100-jähriges Bestehen.Nach Verfolgung während der NS-Zeit entwickelte sich eine lebendige Gemeinschaft

Holsterhausen. Wenn die ev. Gehörlosengemeinde Essen dieser Tage ihr 100-jähriges Bestehen feiert, kann sie auf wechselvolle Jahre zurückblicken: Gründung und Aufbau folgten Jahre der Bedrückung zur Zeit der NS-Herrschaft in Deutschland. Ihren Geburtstag begeht die Gehörlosengemeinde am Sonntag, 6. Mai, ab 15 Uhr, mit Festgottesdienst und Jubiläumsfeier im Saal der Lukaskirche, Planckstraße 115, wo seit 1986 die Gehörlosengottesdienste stattfinden.

Heute präsentiert sich die Gehörlosengemeinde, die ihren Sitz in Holsterhausen hat, als lebendige Gemeinschaft mit einer Vielzahl von Aktivitäten: Außer Seelsorge und Gottesdiensten gibt es regelmäßige Treffpunkte, die über wichtige Themen aus allen Teilen des gesellschaftlichen Lebens informieren, Bibelgesprächskreise und Konfirmandenunterricht, Besuchsdienstarbeit, Religionsunterricht, einen Jugendtreff und eine Eltern-Kind-Gruppe.

Dass Essen über vergleichsweise viele gehörlose Einwohner verfügt - derzeit sind es dank der großen, überregionalen Schulen für Gehörlose und der dazugehörigen Internate etwa 5800 - merkt auch die Gehörlosengemeinde: "Wir sind in dieser Stadt zurzeit wohl die einzige ev. Kirchengemeinde, die gegen den Trend wächst - wenngleich auch nur eine kleine", sagt Gehörlosenseelsorger Volker Emler.

Emler ist außer für Essen auch für die Gemeinden in Duisburg, Oberhausen und Mülheim zuständig, so dass Gottesdienste und Vorbereitungstreffen einmal monatlich reihum in jeder der vier Städte stattfinden. 350 Mitglieder zählt die Essener Gemeinde derzeit, viele von ihnen sind aktiv: In den letzten Jahren ist die Zahl der Gottesdienstbesucher kontinuierlich von 75 auf etwa 100 gewachsen. 40 Ehrenamtliche und eine Pastorin im Sonderdienst unterstützen die Gemeindearbeit.

60 Teilnehmer kommen zu den wöchentlichen "Treffpunkten", einem "Herzstück" der Gemeindearbeit: Theologische und kirchliche Vorträge stehen ebenso auf dem Programm wie lebenspraktische Fragen und Themen aus allen Bereichen der Gesellschaft. Und dafür, dass immer wieder jüngere Mitglieder in die Gemeindearbeit hineinwachsen, sorgt seit zehn Jahren eine Eltern-Kind-Gruppe: 20 Eltern und ihre Kinder treffen sich regelmäßig in den Räumen der Gehörlosengemeinde an der Henckelstraße 22 zum Basteln, zu Kreativaktionen und zum Erfahrungsaustausch, der für gehörlose Eltern besonders wichtig ist.

"Für uns ist die Gemeinde nicht nur wegen der Seelsorge wichtig, sondern auch als Ort der sozialen Begegnung und der Kommunikation", berichtet Markus Nowhöfer. Der 32-jährige Ausstellungstechniker ist vor kurzem zum zweiten Mal Vater geworden und Sprecher der Eltern-Kind-Gruppe. Ein abgeschottetes Eigenleben führen die Gehörlosen aber nicht, wie Mechthild Frank, engagierte Gottesdiensthelferin und erste Vorsitzende des ev. Gehörlosenvereins Essen, betont: "Wir fühlen uns wohl und sind voll integriert: In der Stadt Essen, die auf die Bedürfnisse von gehörlosen Menschen immer besser reagiert, im Stadtteil Holsterhausen und in der Kirchengemeinde Holsterhausen."

Das war einmal anders - mit oftmals schrecklichen Konsequenzen für die Gehörlosen. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden gehörlose Menschen auch in Essen stigmatisiert und verfolgt. Die Gehörlosenvereine, auch der evangelische, wurden gleichgeschaltet, der Gottesdienstbesuch sank auf wenige Teilnehmer. Viele Gehörlose wurden zwangssterilisiert - ein Schicksal, dem die Gemeinde fast ohnmächtig zusehen musste. "Unter den älteren Gehörlosen ist die Erinnerung an diese Zeit noch sehr präsent", sagt Mechthild Frank.

Auch die jüngeren sind betroffen: "Ich habe erst nicht verstanden, warum ältere Gehörlose auf meine Kinder neidisch waren. Jetzt weiß ich es besser: Sie konnten aufgrund ihrer Zwangssterilisierung selbst keine bekommen." Gegen diese Gefühle konnte auch das Bundesentschädigungsgesetz, für das sich auch die rheinische Landeskirche nachdrücklich eingesetzt hat und das Zwangssterilisierten einen finanziellen Ausgleich zusprach, nur wenig helfen.

Eine Festschrift konnte dank einer Spende der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung gedruckt werden und ist kostenlos unter Tel: 73 49 82 zu bestellen.