Essen. .

Die Essener Traditions-Chöre haben Nachwuchssorgen. Sie klagen über Mitgliederschwund, speziell über einen Mangel an Tenören. Im Gegensatz dazu scheinen Jugendchöre jedoch zu wachsen.

„Wo man singt, da lass dich nieder...“ haben wir einst in der Schule gelernt. Und da fühlen wir uns in Essen, wo beinahe jeder Stadtteil und jede Gemeinde ihren Chor hegt und pflegt, ganz gut aufgehoben. Vor mehr als tausend Jahren war es um die Chormusik im alten Stift schon gut bestellt, wie man von der Wissenschaft weiß. Und später schossen Chöre für Arbeiter, Kirchenmitglieder, Kinder, Männer, Frauen aus dem Boden. Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände, Chorfestivals und Chorkongresse, die in Essen stattfanden, zeichnen sie als Stadt mit Kunstsinn aus. Und heute? Wir haben viele und bedeutende Chöre. Aber sie klagen. Sie klagen über Mitgliederschwund, speziell über einen Mangel an Tenören.

Zu Wort kommt der Schubertbund, einst elitärer Männerchor, der 1923 gegründet wurde und dessen Mitglieder im schwarzen Frack auf der Bühne standen. Das war für manchen Jungmann wohl noch ein soziologischer Anreiz, wie der Wirtschaftswissenschaftler Heinz Altenburg vermutet. Doch heute lockt man damit keinen mehr vom Sofa. Dirigent Lothar Welzel sieht es recht klar, wenn er ein „gesamtgesellschaftliches Problem“ hinter dem Schrumpfen der Chöre vermutet. Er habe versucht, mit einem Knabenchor die Nachwuchssorgen zu beheben. Doch Umfragen in Schulen brachten keinen Erfolg. „Projektchöre“, sagt er, seien heute gefragt. Die schwierige Arbeitssituation, die Schnelllebigkeit, erlaube es nicht, sich auf lange Zeit zu binden.

„Neunzigjährige Tradition ist nicht immer etwas Positives“

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Von DerWesten

Im Chor selbst habe man auch mit Widerständen zu kämpfen, wenn es um gezielte Verstärkung gehe. Der einst etwa 100 Männer starke Chor ist auf 38 Mitglieder höheren Alters zusammengeschrumpft. Bei Konzerten schließt man sich deshalb nun gerne mit anderen Chören zusammen - wie zuletzt zum Beispiel mit dem Mädchenchor am Dom. „Neunzigjährige Tradition ist nicht immer etwas Positives“, meint Lothar Welzel, verkrustete Strukturen müssten überwunden werden. Das betreffe auch das Repertoire: Mit dem ausschließlichen Besingen des deutschen Waldes, Weibes und Gesanges locke man sicher nicht die „Generation Computer“ ins Haus. Kurzum: Der renommierte Konzertchor, der jede Menge gemütvoller CDs aufnahm, hat Nachwuchssorgen.

Anders tönt es beim Essener Bachchor. Stephan Peller leitet den hundertköpfigen Kirchen- und Konzertchor. Singen ist für den engagierten Chorleiter ein Therapeutikum gegen die Krankheiten der Zeit. „Mit ganzheitlichem Ansatz“, mit Leidenschaft für die Musik und vor allem mit starkem Gottesglauben hält er seine Sänger zusammen. „ Junge Männer mit Chorgeist“, speziell Tenöre, seien zwar Mangelware, erklärt er, aber in seinem Chor seien alle Generationen vertreten. Die großen Oratorien erarbeitet sich dieser Chor, singt dabei sogar für Häftlinge im Knast. Im Chorsingen sieht er eine „echte Chance“, eine gute Gemeinschaft, ein Zuhause, zu finden. Peller leitet auch den ebenfalls hundertköpfigen Polizeichor. Auch hier stehe man zusammen wie Pech und Schwefel.

Glücklich ist Andy von Oppenkowski. Der Leiter der Essener Kantorei an der Kreuzeskirche konnte nach den Ferien gleich acht neue Tenöre aufnehmen. Wunderbar. Dennoch bleiben auch dort Tenöre Mangelware. „Offensive Werbung muss man heute betreiben“, erzählt er. Doch sieht er für seinen Chor alles andere als schwarz. Alte Musik, Bach und drum herum, dazu auch zeitgenössische Musik gehören zu den Schwerpunkten dieses „Kirchenchores mit Konzertstruktur“.

Mit Einzel-Stimmbildung gegen schlechte Chor-Situation ankämpfen

Klar, dass er die Internetseite aktuell halte und sich den Luxus einer Altersgrenze nicht erlaube. Zumal die Stimme wie ihr Träger individuell altere. Stimmbildung und wöchentliche Proben sind die Regel. Seine Sänger sollten musikalisch vorgebildet sein und möglichst vom Blatt singen können. Außergewöhnliche Programme liebt der junge Chorleiter. So stehen die selten aufgeführte „Missa sacra“ von Schumann demnächst ebenso auf dem Programm wie eine Psalmenkantate von Mendelssohn-Bartholdy.

Rund 60 Sängerinnen und Sänger umfasst der Essener Domchor, den Wolfgang Endrös leitet. Nachwuchssorgen kennt auch er weil es für viele immer schwieriger werde sich zu binden, so der Domkantor. Die Fitness-Bude habe halt 24 Stunden geöffnet, das könne ein Verein nicht bieten. Auch sei das Singen in unserer Gesellschaft nicht mehr verankert. Der Pool der Kirchenmitglieder werde zudem immer kleiner. Auch der Johannes Damascenus Chor, den er leite, spiegele diese Situation wider. Soprane fehlten, Tenöre fehlten, wichtige Leute habe der Chor ersatzlos verloren.

Zwischen vier und 29 Jahren sind die Knaben und jungen Männer, die Georg Sump in den Domsingknaben vereint. „Aus jedem Jungen“, sagt er, habe er „einen guten Sänger gemacht“. Zehn bis 15 neue Sänger brauche er in jedem Jahr, um die Stamm-Mannschaft von 130 aufrecht zu halten. Mund zu Mundpropaganda helfe ihm dabei. Lehrer meldeten sich bei ihm, wenn sie einen guten Sänger in der Klasse haben. Kurzum: Die Konzerte, Konzertreisen, Ferienfreizeiten, Romfahrten, Besichtigungen von Kathedralen, Besuche bei anderen Chören haben auf die jungen Leute einen großen Anreiz. Nachwuchssorgen kennt er nicht.

Auch Raimund Wippermanns etwa hundert Sängerinnen umfassender Mädchenchor am Dom erfreut sich höchster Beliebtheit. Knaben- und Mädchenchor am Dom sind offenbar ebenso im Aufwärtstrend, wie der bekannte, 130 Kinder umfassende, Essen-Steeler Kinderchor, den Reinhold Ix mit viel Engagement leitet. „Aktive Betreuung“ lautet sein Zauberwort, um die kleinen Sänger bei der Stange zu halten und zehn Konzerte im Jahr von Essen bis Kyoto zu stemmen.

Stefanie Westerteicher, die mit großem Erfolg die Jugendkantorei und den Kinderchor der Auferstehungskirche betreibt, bildet ihren Nachwuchs selbst heran. Mit Einzel-Stimmbildung geht sie gegen die insgesamt verschlechterte Chorsituation an und freut sich, dass die Jugendlichen ihr die Treue halten. Unter ihren Ehemaligen finden sich sogar Gesangsstudenten und Musikmanager und -pädagogen. Aber auch sie bestätigt: Tenöre fehlen. Offensichtlich sind gerade die eine seltene Spezies.