Essen-Werden. Der Volksmund sagt: Eine alte Witwe weiß sich zu helfen, ein alter Witwer nicht. Das darf man sicher nicht verallgemeinern, aber wie so oft trifft hier Volkes Meinung, auf viele Fälle bezogen, mitten ins Alltagsleben. Zum Beispiel bei dem 83jährigen Werdener Hermann M. Er fühlt sich vom Schicksal hart getroffen - und er steht allein.

Als vor zwei Jahren seine Frau starb, sagten die Nachbarn: „Das war bestimmt der Kummer“. Der jüngste Sohn war gerade bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die Tochter zog nach der Scheidung von ihrem Mann mit ihren beiden Kindern nach Norddeutschland, wo sie ein neues Leben beginnen wollte. Der älteste Sohn lebt mit seiner Freundin in Dortmund, Kinder haben sie nicht, neuerdings ist er oft auf Montage im Ausland. Um Vater Hermann wurde es plötzlich still und einsam.

Eine Großnichte rief noch ein paar Mal an und fragte, ob er etwas brauche. Dann hörte auch das auf.

Der Senior beklagt sich nicht, er sagt: „Die jungen Leute engagieren sich für Sachen wie mehr Freiheit für Frauen in Afghanistan, aber die eigene Oma im Altenheim besuchen sie nicht, und den alten Großonkel schon gar nicht“.

Der gehört nicht zu den ganz Armen im Land, er ist aber auch nicht gerade wohlhabend. Als alter Kruppianer hat er eine normale Rente. Er kommt zurecht. Aber er hätte nie gedacht, dass er es im Altersalltag so schwer haben würde. Das fängt schon an beim Einkaufen. Wenn er bloß noch das Auto hätte. Aber das hat er abgegeben, an seine Tochter, schon wegen der Kinder und auch wegen der Augen, die ihm immer schlechter wurden. Überhaupt merkt er, wie die Körperkräfte nachlassen. Doch er schreckt vor dem Umzug ins Altersheim zurück, denn „wenn die Rente nicht reicht, müssen meine Angehörigen zuzahlen.“

Den Hausarzt gewechselt

Er ist froh, dass mittwochs der Bauernwagen aus dem Münsterland kommt, der eine Reihe von Lebensmitteln bis vor die Haustüre bringt. Der nette Verkäufer heißt Mirko. Aber alles hat der auch nicht. Und dann muss er den Berg runter bis auf die Heckstraße. Und rauf, das bleibt dann ja auch nicht erspart. Er hat jetzt schon Angst vor dem Winter. Den Hausarzt hat er gewechselt, den neuen kann er zu Fuß erreichen - - aber der alte kannte ihn lange und gut. Von seiner Fußpflegerin, die ins Haus kommt, hat er erfahren, dass es anderen Senioren aber noch viel schlechter geht. Manche hungern des öfteren, weil ihnen das Einkaufen zu schwer ist.

„Blauer Brief“ vom Finanzamt

Zu allem Übel kam jetzt noch ein „blauer Brief“ vom Finanzamt, der den Hermann bis ins Innere erschreckte. Er soll eine ganze Reihe Steuererklärungen noch einmal einreichen, binnen vier Wochen. Wenn nicht, dann setze es hohe Geldstrafen, vielleicht sogar Gefängnis. In einer Fernsehsendung erfuhr der verängstigte Mann, dass Tausende einen solchen Brief erhielten und dass bereits der Bund der Steuerzahler empört dagegen Protest erhoben hat. Mehrere alte Leute sollen vor Aufregung einen Schlaganfall erlitten haben.

Ein Nachbar von Hermann M. fragte für ihn einen Steuerberater, was es wohl kosten würde, wenn er dessen Hilfe braucht. Billig wird das jedenfalls nicht. Da geht das bisschen Ersparte drauf.

Als wir Hermann fragten, was er sich denn von seinem restlichen Leben erhofft, sagte er ganz ruhig: „Hoffentlich bin ich vor dem nächsten Schicksalsschlag schon tot“.