Essen-Werden. Es gab Zeiten, da hatte jeder Straßenzug seinen eigenen Männergesangsverein. Die Eckkneipe war Versammlungslokal und Proberaum. Das Repertoire war groß. Arbeiterlieder von Kommunisten und Sozialdemokraten, von den Bürgerlichen eher klassische Literatur: Silcher, Friedrich Glück oder Franz Schubert. Diese Zeiten sind vorbei, auch wenn man mit Blick auf die Werdener Sangesfreunde einen anderen Eindruck bekommen könnte. Fast 100 aktive Mitglieder machen den Chor zum größten Ensemble dieser Art in Essen und Umgebung.
Die Sangesfreunde gehören zu Werden. Zu ihren Mitgliedern zählen Ärzte und Steuerberater, Wissenschaftler und Juristen, Honoratioren und Pfarrer. Dabei gelingt ihnen das Kunststück, zwar stets präsent zu erscheinen, ihre Auftritte aber so geschickt zu dosieren, dass möglichst viele Bässe, Tenöre und Baritone daran teilhaben können. Dabei beherrschen sie das Legere wie das Feierliche gleichermaßen, singen mit herrlichem Gespür für Leichtigkeit und Humor im Paul-Hannig-Heim im Karo-Hemd, zuletzt in der evangelischen Kirche unter dem Programm-Titel „Frieden der Welt“ an zwei ausverkauften Abenden hintereinander - aber natürlich auch festlich in Club-Jacke und Krawatte.
Lockerheit und Konvention, den Spagat zwischen diesen beiden Extremen bringt das Ensemble mit seinem Dirigenten Norbert Bunse auch im eigentlichen Konzertprogramm spielend leicht fertig. Mendelssohn-Batholdy folgt auf eine schmissige Operetten-Melodie - und das Publikum dankt mit tosendem Applaus.
„Musik macht Freude, Musik macht Freunde“, auf diese Formel bringt Siegfried Rhein, Sprecher der Sangesfreunde, das Erfolgsrezept. „Was allerdings den Nachwuchs betrifft, stehen wir vor der selben Herausforderung wie alle anderen Chöre unseres Zuschnitts auch“, weiß Rhein, der sich auch als erster Vorsitzer des Fördervereins Bürgermeisterhaus Werden für kulturelle Präsenz im Alltag engagiert.
Initiativen wie „SING! Day of Song“ im Kulturhauptstadtjahr 2010 haben auch die Sangesfreunde mit Interesse beobachtet. Allein, der Effekt bleibt aus. Sprich: Jüngere Männer suchen sich im Zweifel andere Möglichkeiten, gemeinsam zu musizieren. Dass das erfolgreich praktizierte Modell dennoch nicht in die Mottenkiste gehört, beweisen restlos ausverkaufte Konzerte und der Zusammenhalt jener, die sich gefunden haben.
Belege für diese Verbundenheit ließen sich in großer Zahl anführen. Gemeinsame Fahrten und Ausflüge, wie etwa zum Kaiserdom nach Aachen, gehören zum Vereinsleben ganz selbstverständlich dazu. Daneben ergeben sich aber auch immer wieder Anlässe, den anderen spüren zu lassen, dass er Teil einer Gemeinschaft ist und bleibt.
„Es war schon ein besonderer Augenblick, als wir unserem Ehrenmitglied Heinz Fleckhaus zum 90. Geburtstag gratulieren durften“, erinnert sich Rhein. „So häufig kommt das schließlich nicht vor.“ Nichts als Rührung war den Reaktionen des Seniors abzulesen, als sich seine Freunde und Kameraden zum überraschenden Ständchen eingefunden hatten. „Am liebsten hätte er mitgesungen“, hat Rhein beobachtet.
Dr. Heinrich Engel, Werdens Propst bis 2000, leidenschaftlicher Sänger und Lieddichter sowie ein großer Anhänger der Sangesfreunde und 1995 deren damals 100. Vereinsmitglied, erklärte das Phänomen von Essens größtem Männerchor, der nur aus Amateuren besteht, so: „Wenn ein Chor wie dieser verschiedene Töne gleichzeitig zu Gehör bringt, entsteht Harmonie.“
Das dürfte das ganze Geheimnis sein. Erleben kann das jeder Mann, der einigermaßen gut bei Stimme ist. Geprobt wird immer montagsabends über der Schatzkammer. Siegfried Rhein: „Es geht darum, sich begeistern zu lassen. Singen bedeutet für uns alle ein großes Stück Lebensfreude. Da ist es oft ganz leicht, ein Sangesfreund zu sein.“