Essen-Fischlaken. Streifzug durch „Les Misérables“ mit Jörg Gabriel und Nicole Richtmann. Was über 300 Menschen in der Kirche Christi Himmelfahrt erlebten.
Tosender Applaus. Die Künstler verneigen sich, die Begeisterung der Zuhörer motiviert sie zu einer Zugabe. Noch einmal kehren wir also zurück in den Garten des Jean Valjean, die Rosen blüh‘n, die Liebe umso mehr. Cosette himmelt ihren Marius an, der schmachtet: „Mein Herz ruft nach Dir!“ Ein amouröses Duett mit garantiertem Gänsehauteffekt. Pater Jörg Gabriel und Nicole Richtmann geben das Liebespaar, das so jäh entzweit wird und später doch zum Glück findet.
Zuvor jedoch geht es um blanke Not, die zum Diebstahl zwingt, den Sträfling mit der Nummer 24601, seinen unerbittlichen Verfolger, die Pariser Barrikaden, das Blut des revoltierenden Volkes, die Gnadenlosigkeit des Regimes. Es geht aber auch um Liebe, Vergebung und finale Erlösung.
Eine traurige Geschichte, Hunger, Willkür, eine verrohte Gesellschaft
Hier beginnt die Geschichte. 1998 sieht Pater Jörg Gabriel zum ersten Mal in Duisburg das Musical „Les Misérables“ nach dem großen Stoff von Victor Hugo und ist ergriffen: „Da ist nicht nur die Musik, die sich wohltuend von der süßlichen Andrew-Lloyd-Webber-Soße abhebt. Da ist auch der tiefe Inhalt. Eine traurige Geschichte, Hunger, Willkür, eine verrohte Gesellschaft. Was macht das mit uns Menschen?“
Nach mehreren Besuchen, dem Kauf der CD, schwärmt Pater Gabriel: „Große Musik, große Gefühle.“ Seitdem schlummert tief in ihm ein Wunsch. Singen gehört zum Geschäft eines Geistlichen, in der Liturgie kann passabler Gesang nicht schaden. Aber er möchte mehr, traut sich und seiner Stimme was zu. Vor zwei Jahren etwa, bei einem Workshop mit dem Komponisten Gregor Linßen, der ein Hochgebet modern vertonte: „Ein ganz eigener Rhythmus, schwer.“ Leute, die was davon verstehen, haben ihm gesagt: „Machen sie was aus ihrer Stimme!“
Noch bleibt es nur ein Traum, doch dann betritt Nicole Richtmann die Bühne. Die beiden kennen sich von der Theatergruppe „Die Himmelsstürmer“. Immer schon begeisterte Richtmann als Sängerin, in Chören, einer Band, als Solistin: „Dass Nicole eine schöne Stimme hat, war mir sofort klar. Wir haben schon mal in der Christmesse zusammen gesungen, als Erzengel Gabriel und Jungfrau Maria. Auf bayerisch übrigens. Wir wollten noch mehr zusammen machen. Nun ist es endlich soweit.“
Die Proben begannen im Februar
Im Februar beginnen sie mit den Proben, konzentriert singen und gleichzeitig darstellen ist gar nicht so einfach. Gabriel schmunzelt: „Da wurde nach und nach mehr draus, als ursprünglich geplant war. Kostüme kamen dazu. Für manche Lieder wäre doch ein Chor ganz schön? Also springt der Familienchor bei.“ Theaterpädagogin Stephanie Jaffke übernimmt die Regie, führt die Darsteller an professionelles Niveau. Nun trägt sie die Rahmenhandlung vor, mit viel Gespür für Nuancen. Dann erklingen die ersten Töne, Heinz Rudolf Kunze hat die Texte auf Deutsch übersetzt.
Pater Gabriel spielt und singt gleich mehrere Rollen, den geläuterten Sträfling Jean Valjean, seinen Peiniger Javert, den gewissenlosen Gauner Thénardier und den hoffnungslos verliebten Studenten Marius. Er bekommt herzlichen Beifall. Christian Paeger kümmert sich um die Technik, die Headsets, das Licht. Kerzen brennen, mysteriös die fantastische Illumination der Kirche Christi Himmelfahrt. Die ist überfüllt, über 300 Menschen drängeln sich, wollen live dabei sein.
Hochzeit nach Irrungen und Wirrungen
Nicole Richtmann bringt die gequälte Seele Fantine auf den Punkt: „Ich hab‘ geträumt, mein Leben wär‘ ein Schicksal außerhalb der Hölle - nichts blieb mir mehr von meinem Traum.“ Sie stirbt entkräftet, wird nicht die letzte Tote sein an diesem wundervollen Abend. Als Madame Thénardier darf sie chargieren, auch hier überzeugt Richtmann. Eine große Stimme. Sie ist eine hauchzarte Cosette, eine vom Leben enttäuschte Éponine. Die wird erschossen. Darauf hatten sich die Sänger geeinigt: „Jeder von uns darf zweimal sterben…“
Vier Tode also und dazu nach Irrungen und Wirrungen die Hochzeit von Cosette und Marius. Javert geht ins Wasser, auch Valjean stirbt, seine letzte Worte könnten Pater Gabriels Motto sein: „Zu lieben einen Menschen heißt das Antlitz Gottes seh’n…“