Essen. Im Jahr 2014 kehrten schon über 1400 Essener den beiden großen Glaubensgemeinschaften den Rücken. Das sind 71 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Selten ist die Zahl der Kirchenmitglieder so rapide gesunken wie in den vergangenen Monaten. Der Grund ist wohl eine Steuerreform.

Es ist kein Geheimnis, dass die christlichen Kirchen in Deutschland unter einem starken Mitgliederschwund leiden. Selten aber ist ihre Zahl so rapide gesunken wie in den vergangenen Monaten. Egal wo man nachfragt, überall wurden rekordverdächtige Zahlen gemeldet - natürlich auch in Essen.

Seit Anfang des Jahres bis zum Stichtag 11. August beantragten beim Amtsgericht Essen exakt 1402 Bürger den Austritt aus den beiden großen christlichen Glaubensgemeinschaften. Das sind 587 mehr als im Vorjahreszeitraum - ein Anstieg von rund 71 Prozent. Im gesamten Jahr 2013 kehrten lediglich 1590 Menschen ihrer Kirche den Rücken. Während vom 1. Januar bis zum 11. August 2013 genau 345 Protestanten ihre Kirche verließen, waren es dieses Jahr im gleichen Zeitraum bereits 604, ein Anstieg von 75 Prozent. Die Katholiken verloren 718 Mitglieder im Vergleich zu 464 im Vorjahr (55 Prozent mehr). Die evangelische Kirche in Essen ist also prozentual noch stärker betroffen, obwohl die Katholiken von Skandalen wie um den Limburger Bischof Tebartz-van Elst direkter betroffen waren.

Neues Abführungssystem für die Kirchensteuer

Bei der Ursachenforschung wollen sich die Verantwortlichen in Essen nicht festlegen. Winfried Dollhausen von der Pressestelle des Bistums Essen vermutet allerdings, dass das neue Abführungssystem für die Kirchensteuer auf Kapitalerträge ein Grund sein könnte. Ab dem 1. Januar 2015 wird diese automatisch von den Banken abgeführt, sofern man in der Kirche ist. Bisher mussten Kirchenmitglieder den Banken extra mitteilen, ob und in welcher Religionsgemeinschaft sie Mitglied sind und haben die Abführung der Steuer wohl häufig vermieden. „Es wird aber keine neue Steuer erhoben oder eine bestehende erhöht“, erklärt Dollhausen.

Grüne wollen Austrittsgebühr abschaffen

Wer in NRW aus der Kirche austritt, muss seit 2006 eine Verwaltungsgebühr von 30 Euro bezahlen. Diese zieht der Staat ein, um seine Kosten zu decken

Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Regelung 2008 für rechtens. Die Grünen bewerten die Gebühr als nicht tolerable Einschränkung persönlicher Freiheit, die Kirche möge als Auftraggeber der Verwaltung diese Kosten auch übernehmen.

Die Änderung des Steuersystems oder das Publikwerden von Skandalen seien wohl meist nur ein Anlass, „den Schritt letztendlich wirklich zu gehen“, so Dollhausen. Häufig sei dem ein längerer Prozess der Distanzierung von der Kirche vorangegangen. Auch die Evangelische Kirche im Rheinland hält die Kirchensteuer eher für den Anlass als für die Ursache der Austritte. Trotzdem hat man sich entschlossen, transparent zu agieren. Über Gemeindebriefe und auf Kreissynoden sollen die Mitglieder informiert werden. Schlagzeilenträchtige Affären bei den Katholiken würden im Übrigen auch auf die protestantische Kirche zurückfallen.

Häufung von Austritten zum Ende des Jahres

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Der Effekt, den die Kirchensteuer auf die Mitgliederzahlen hat, ist aber nicht zu übersehen. So ist auffällig, dass sich gerade gegen Ende des Jahres die Austritte häufen. Das ist die Zeit, in der viele ihr Weihnachtsgeld bekommen, das wegen der Steuerprogression besonders stark von Abgaben belastet ist. Der Gedanke, dann wenigstens bei der Kirchensteuer zu sparen, liegt da für viele wohl nahe.

Essen ist übrigens eine Stadt mit starker katholischer Dominanz. Zum 31. Dezember 2013 zählte das Ruhrbistum im Stadtgebiet genau 207.071 Mitglieder, zur evangelischen Kirche bekannten sich rund 143.000 Bürger. Rund 220.000 Essener gehören keiner Kirche oder anderen Glaubensgemeinschaften an.