Essen. . Der türkische Oppositionspolitiker Kemal Kilicdaroglu sprach vor über 4000 meist türkischen Besuchern in der Grugahalle.

Sie haben ihm ein Fest bereitet. Aus den Lautsprechern dröhnt türkische Popmusik und die Tribüne der Grugahalle verwandelt sich in ein Meer aus roten Parteifahnen. Über 4000 Türkinnen und Türken sind am Freitag in die Grugahalle gekommen, um den Mann zu sehen, in den sie zurzeit große Hoffnungen für eine andere Türkei setzen: Kemal Kilicdaroglu ist der Vorsitzende der größten türkischen Oppositionspartei CHP und zurzeit auf Wahlkampfreise durch Europa. Jetzt machte er Station in Essen, sein vorerst einziger Auftritt in Deutschland vor den türkischen Präsidentschaftswahlen am 10. August.

Aufbegehren für Demokratie

„Die Türkei wäre stolz auf euch. Ruft lauter, damit Erdogan euch hört“, begrüßt Kilicdaroglu unter tosendem Applaus die Besucher. Sie sind aus allen Ecken Deutschlands gekommen und haben teilweise lange Anreisen auf sich genommen, um sich ein eigenes Bild von den Zielen der CHP zu machen. Ein Punkt eint die meisten hier: Sie wollen ein Zeichen setzen für mehr Demokratie und Menschenrechte in ihrem Land und gemeinsam Front machen gegen den aus ihrer Sicht zunehmend autokratischen Kurs des amtierenden Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan (AKP). „Überall ist Taksim! Überall ist Widerstand!“, rufen sie im Chor und „Wir sind die Soldaten von Mostafa Kemal!“- gemeint ist Atatürk, der Begründer der modernen Republik Türkei.

Unter den Zuhörern sind viele junge Frauen, die meisten von ihnen unverschleiert. Besonders für ihre Rechte in der Türkei wolle sich die CHP stark machen, verspricht Kilicdaroglu. Eine von ihnen ist Sitem Demirbilek: „Die Türkei steht enorm unter Druck - er hat heute vielen von uns aus der Seele gesprochen“, sagt die 26-Jährige. „Gerade jetzt ist es wichtig, dass wir jungen Leuten uns politisch engagieren.“ Oder Celal Dogan (45), der mit seiner Familie aus Darmstadt angereist ist: „Erdogan ist ein Spalter. Er benutzt die Religion als Vorwand, um die Menschen gegeneinander aufzubringen und Andersdenkende zu unterdrücken.“ Er sagt das mit energischem Nachdruck – in hessischer Mundart.

Sonst bleibt es friedlich an diesem Tag, Unruhen durch Gegendemonstrationen, wie es sie jüngst beim Auftritt Erdogans in der Kölner Lanxess-Arena gegeben hatte, blieben nach Angaben der Polizei Essen aus. In Köln hatten circa 20.000 Anhänger den Wahlkampfbesuch Erdogans verfolgt.

Als Kilicdaroglu auf das Grubenunglück von Soma zu sprechen kommt, bei dem im Mai dieses Jahres 301 Arbeiter ums Leben gekommen waren, kehrt betretene Stille in die Halle ein. Unter die Trauer mischt sich spürbar die Ohnmacht und Wut vieler Menschen. „Das Ruhrgebiet hat eine wichtige Rolle bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, dem Grundstein für die Europäische Union, gespielt. In der früheren Bergbaustadt Essen teilen wir mit euch den Schmerz dieser Tragödie“, so der Politiker. Doch sei das Unglück keine Laune des Schicksals gewesen, wie Erdogan es darstelle, sondern allein der Profitgier und Fahrlässigkeit der jetzigen Machthaber geschuldet: „Das war kein Unfall, das war Mord“, konstatiert Kilicdaroglu nüchtern. Zustimmender Applaus.

Generell herrsche in der Türkei derzeit ein Klima der Angst und Einschüchterung. Seien es massive Eingriffe in die Pressefreiheit, die Korruptionsaffäre Erdogans oder die derzeit schlechten, diplomatischen Verbindungen zu den Nachbarländern – die CHP wolle die antidemokratischen Tendenzen der Staatsspitze in allen gesellschaftlichen Bereichen bekämpfen und die Türkei wieder zu einem freien Land machen. „Sagt euren Kindern, sie sollen fleißig sein und die Sprache des Landes, in dem sie leben, gut erlernen. Nur Bildung schafft Selbstvertrauen.“ Auch damit positioniert er sich gegen Erdogan, der wiederholt seine Landsleute ausdrücklich vor einem Übermaß an Assimilation gewarnt hatte. Spricht’s und verschwindet hinter der Bühne, seine kleine Tochter auf dem Arm.