Herr Balaban, Herr Karioh, Herr Kazoglu, hätten Sie wie einst Mesut Özil vor der Wahl gestanden – für welche Fußball-Nationalmannschaft wären Sie angetreten? Für Deutschland oder das Land Ihrer Vorfahren?

Kazoglu: (lacht) Ganz fiese Frage.
Balaban: Ich weiß über Özils Geschichte wenig. Ich hätte mich für die deutsche entschieden. Weil ich hier Wurzeln geschlagen habe.
Karioh: Definitiv für die deutsche. Weil man dort beheimatet ist, wo man sich wohlfühlt.
Kazoglu: Ich verweigere meine Aussage.

So leicht kommen Sie uns nicht weg.

Kazoglu: Aber die Frage ist für mich persönlich zu einfach. In dieser Situation habe ich noch nicht gesteckt. Ich könnte nicht pauschal sagen: für diese oder für die andere.

Aber können Sie sich vorstellen, dass das für die Essener ein wichtiges Thema ist? So eine Art Gradmesser für gelungene Integration?

Balaban: Weil Özil eine Vorzeigepersönlichkeit ist, aber das allein reicht nicht. Integration muss in der Nachbarschaft gelingen. Im Alltag, in den Schulen, im Sport, in der Wirtschaft ist weit mehr gelungen als in der Politik.

Bleiben wir mal beim Sport: Es gab vor einiger Zeit den Versuch mehrerer Migrantenvereine, sich an einem Standort zusammenzuschließen. Was die Frage aufwarf: Wenn die schon da nur unter sich bleiben – wie soll dann Integration gelingen?

Kazoglu: Eine Fusion hätte das Vereinsleben gestärkt, denn auch die Migrantenvereine haben Probleme. Es gibt davon zu viele, jeder einzelne hat keine gesunde Struktur: geringe Mitgliederzahlen, keine Werbeeinnahmen, kein Vereinsheim. Ich habe versucht zu vermitteln. Ein heikles Thema, bei dem ich damals die politische Unterstützung vermisste. Ich hatte das Gefühl, der Sport wird für Politik missbraucht. Dabei kenne ich keinen Forschungsbericht, der bestreitet, dass Migrantensportclubs nützlich wären für die Integration.

Die Sorge, dass das zur Abschottung führt, teilen Sie also gar nicht?

Kazoglu: Im Gegenteil. Es würde die Sportlandschaft stärken.

Ist Migrantensport mithin vergleichbar mit deutschen Trachtengruppen in den USA, eine Art Traditionspflege für die alte Heimat in der neuen?

Karioh: Es gibt keine neue und keine alte Heimat. Wir aus der zweiten oder dritten Generation kennen nur diese Heimat, nichts anderes. Marokko, Heimat meiner Eltern und Großeltern, kenne ich vom Urlaub.

Ist das eines der großen Missverständnisse zwischen „Alt“- und „Neu“-Deutschen?

Karioh: Definitiv. Wir leben in einer globalisierten Welt. Und wenn ich mich als junger Akademiker für einen Lebensmittelpunkt in Istanbul oder Casablanca entscheide, hat das was damit zu tun, wo ich mich wohlfühle. Sie glauben gar nicht, wie schwer der Einstieg in meine Rechtsanwaltskarriere war. Wenn ich in konservativen Gerichtsbezirken als Referendar die Staatsanwaltschaft vertrat, hat man mir automatisch den Platz auf der Anklagebank zugewiesen und gefragt: ,Wo ist denn Ihr Verteidiger?’ Immerhin, mittlerweile hat sich das gebessert.

Heute fühlen sie sich alle hier verwurzelt. Und wollen jetzt in der Politik mehr mitmischen. Was unterscheidet die neue „Allianz Essener Demokraten“ von der alten „Allianz Essener Türken“?

Balaban: Die „Allianz Essener Türken“ haben wir 1987 gegründet. Damals war es so, dass man stolz war, im Rathaus ein Gremium nur für die Ausländer zu haben. Wo man seine Interessen zum Ausdruck bringen konnte. Da gab es griechische, spanische, türkische Listen – jeder war bemüht, die eigene Klientel zur Wahlurne zu bewegen. Ohne Bezug zur eigenen „Community“ im Namen wäre die Beteiligung noch niedriger ausgefallen. Aber seit zehn Jahren gibt es eine Debatte, ob das noch zeitgemäß ist, den alten Namen zu pflegen. Wir wollen uns breiter aufstellen, wollen nicht nur für Migranten dasein, sondern für die Gesamtbevölkerung in Essen.

Aber wer sich ihre Bewerberliste anschaut, findet nicht einmal einen deutschen Alibi-Namen...

Balaban: Wenn Sie unsere Liste ansehen, werden Sie feststellen, dass wir gerade jene Gruppierungen berücksichtigt haben, die aus eigener Kraft eine Liste nicht zustande bringen. Auch die haben ein Anrecht darauf, politisch vertreten zu werden. Wenn diese Leute meinen, die politische Welt berücksichtige schon ihre Anliegen, werden sie die auch weiterhin wählen – damit haben wir kein Problem. Aber wer meint, nein, keiner nimmt uns wahr, wird sagen: Da fühle ich mich vertreten. Unser allererstes Ziel ist es, die Menschen zur Wahlurne zu bewegen. Welche Partei sie dann wählen, ist ihnen überlassen. In erster Linie werben wir für eine Wahlbeteiligung.

Aber man hört doch deutliche Unzufriedenheit heraus. Sie plakatieren ja auch provokativ: „Steuern zahlen und Ehrenamt ja – Stadtrat nein?“ Wir hören da Enttäuschung heraus.

Balaban: Das ist richtig. Wir haben mit den Parteien immer wieder darüber gesprochen. Haben geworben, mehr Kandidaten mit Migrations-Hintergrund zu berücksichtigen. Das ist schwierig, hieß es dann. Wir dürfen natürlich mitwirken, aber es führt nicht in die höheren Etagen, da sitzen immer die Rentner.

Geheimtipp: Sie müssen am Infostand mindestens 500 Würstchen gegrillt haben. Spaß beiseite, es gibt doch Migranten auf aussichtsreichen Plätzen: Sinan Kumru bei der SPD, Ahmad Omeirat bei den Grünen, Ezgi Güyildar bei den Linken...

Balaban: Einzelne Kandidaten, ja. Wir finden unsere Bemühungen dennoch nicht fruchtbar.

Sie finden also: Viel versprochen, nichts gehalten?

Balaban: So ist es. Und Mitte März kam dann großer Druck von der Basis, wo gesagt wurde: Ihr müsst was machen. Und innerhalb von zwei, drei Wochen ist die Liste entstanden. Das war überhaupt nicht geplant.

Haben Sie lange überlegen müssen, da mitzumachen?

Karioh: Nein. Wir haben jetzt schon erste Erfolge erzielt, weil...

...weil Sie hier sitzen...

Karioh: ...nein, es geht tiefer. Die „Allianz Essener Demokraten“ setzt sich ja nicht nur aus türkisch-stämmigen Kandidaten zusammen, wir haben auch viele Bewerber aus Marokko, aus Afghanistan, Bosnien, Albanien... Wir haben es geschafft, den Leuten auch aus Ländern ohne demokratische Tradition beizubringen, dass es da Wahlen gibt, dass uns das was angeht. Und viele gehen zum ersten mal seit vielen Jahren ins Wahlamt. Darauf können wir jetzt schon stolz sein.

Sie holen Ihre Wähler sozusagen direkt zuhause ab. Sonderlich viele Plakate sieht man von Ihnen nicht.

Karioh: Wir sind ja Multiplikatoren, wir haben die Community hinter uns, und die versuchen wir zu bewegen. Natürlich spricht sich das rum. Wenn wir politisches Bewusstsein pflanzen, haben wir unseren Erfolg.

Wenn die AED einen Erfolg bei der Ratswahl erzielen sollte: Braucht man da noch einen Integrationsrat?

Kazoglu: Ich denke schon. Es gibt ja immer noch viele Bürger, die kein kommunales Wahlrecht haben. Für die wird er gebraucht.

Und Sie verstehen Ihren Einsatz als so eine Art Vorstufe fürs kommunale Wahlrecht?

Kazoglu: Absolut. Ich denke, auch für uns persönlich hat die Arbeit im Integrationsrat enorm was gebracht. Das war eine Art Training. Die Parteien haben ja vielleicht auch die Möglichkeit, Talente für sich zu entdecken. Uns geht’s ja auch gar nicht so großartig um den Wahlerfolg...

...ach, kommen Sie...

Kazoglu: ...natürlich wäre es schön im Rat zu sitzen, mit zwei Leuten wäre man eine Gruppe, es ließen sich die Ausschüsse besetzen. Hauptsächlich geht es uns aber darum, ein Zeichen an die Parteien zu setzen: Hört zu, Ihr entwickelt Euch nicht, Ihr öffnet Euch nicht...

...oder sagen wir: nicht schnell genug für Ihren Geschmack...

Kazoglu: ...okay. Uns ist es zu wenig. Ihr fordert Integration, und dabei wird das immer mit sozialen Problemen vermischt. Unter den Deutschen gibt es auch sozial Schwache, die können auch kaum Deutsch, die sind auch nicht ins System integriert.

Empfinden Sie heute noch Ausgrenzung, mehr oder weniger stark?

Balaban: Im Berufsleben habe ich das nicht gespürt, aber in der Politik gibt es die Sorge, dass man ausgegrenzt wird, wenn man zu sehr Migranten ins Spiel bringt...

Kazoglu: Aus dem Blickwinkel, das ist „nur“ eine Migranten-Vereinigung, das sage ich ganz offen, habe ich selber auch Bedenken wegen der Kandidatur gehabt. Das ist auch ein Risiko, sich so zu präsentieren. Wenn Freunde, Bekannte, Geschäftspartner sagen: So kenn ich den ja gar nicht...

Im Raum steht der Vorwurf, die „Allianz Essener Demokraten“ bediene nur persönliche Profilierungssucht...

Balaban: ...das stimmt doch nicht...

...und andere sagen: Ihre Kandidatur ist ein Zeichen, dass die Integrationsbemühungen gescheitert sind. Was sagen Sie denen?

Kazoglu: Diese Behauptung hat ja der Chef des Essener Bürger Bündnis aufgestellt, und da empfehle ich einen Blick auf dessen Kandidatenriege: Sehen Sie da jemanden mit Migrations-Hintergrund? Da sage ich: Die Integration ist bei d i e s e m Wählerbündnis gescheitert.

Karioh: Wenn solche Vorwürfe kommen, muss man über den Tellerrand hinausgucken: In Dänemark gibt es eine Partei, die die deutschen Interessen vertritt. Die ist dort selbstverständlich. In Belgien ebenfalls.

Und für den Südschleswigschen Wählerverband der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein gibt es Wahlerleichterungen...

Karioh: Genau. Unsere Idee wäre...

Balaban: ...dass, wenn die AED im Rat ist, die Möglichkeit besteht, Belange und Interessen der Migranten aus erster Hand zu hören.

Karioh: Ungefiltert.
Balaban: Ohne diesen Schritt kommen wir nicht weiter.

Und wie reagieren die Migranten-Bewerber der etablierten Parteien?

Kazoglu: Einige sind sehr enttäuscht...

Balaban: ...und andere innerlich sehr froh, weil dieser Schritt ihnen in ihrer Partei den Rücken stärkt.

Und der Integrationsrat bleibt für Sie nur Tummelwiese am Rand des eigentlichen Polit-Geschehens, wo man sie abschieben will: Dann gehen die uns im Rat nicht auf die Nerven?

Balaban: Alles, was im Integrationsrat besprochen und entschieden wurde, gelangte ja nicht weiter. Bloß den Rat damit in Ruhe lassen.
Karioh: Wenn Sie uns jetzt die Frage stellen würden: „Wo wollen Sie in fünf Jahren sein?“...

...aber gerne: Wo wollen Sie in fünf Jahren sein?...

Karioh: Wir wollen die etablierten Parteien zum Nachdenken bringen, Denkanstöße geben. Wenn Sie es verstehen und darauf eingehen, und das umsetzen, dann braucht man die AED nicht mehr. Wir wären auch nicht traurig drüber, im Gegenteil.

Weil Problembewusstsein wächst?

Balaban: Ja. Wenn das so gelingt, dann ist die „Allianz Essener Demokraten“ irgendwann überflüssig. In Ordnung! Es soll ein Ruck durch die politische Landschaft gehen.

Kazoglu: Wir opfern uns...

Jesses. Aber was, wenn Sie am 25. Mai bei mickrigen, sagen wir: 0,5 Prozent liegen und kein Ratsmandat bekommen. Dann werden alle sagen: Die AED ist jetzt schon überflüssig.

Balaban: Das stimmt. Wenn wir es nicht schaffen, die Wahlbeteiligung zu erhöhen, müssen wir ernsthaft fragen: War das wirklich richtig?