Herr Geier, schön, dass man sich mal wiedersieht. Man möchte fast sagen: Wo waren sie nur, in all den Jahren?

Überwiegend in Brüssel und auch noch zwölf Wochen im Jahr in Straßburg. Das sind ein paar Sitzungswochen mehr als beim Bundestag. Zwar jeweils Donnerstag mittags um, aber dennoch ist man weniger vor Ort. Zumal es sehr viel mehr Fläche zu betreuen gilt: Bei mir sind das zehn Bundestags-Wahlkreise – da bin ich viel unterwegs.

Und die Leute sagen: Wer ist denn das da auf dem Wahlplakat?

Nicht unbedingt. Es gibt Städte, da kenne ich fast jedes Ratsmitglied...

Gemeint war weniger die lokale Politprominenz als vielmehr Otto Normalbürger: Kann der mit Jens Geier was anfangen, „unserem Mann“ in Europa?

Weiß ich nicht. Muss er ja auch nicht, weil es für mich keinen Wahlkreis zu gewinnen gilt. Ich bin auf der Straße jedenfalls noch nicht angesprochen worden.

Bisschen beleidigt, weil das so ist?

Überhaupt nicht, nein.

Weil das typisch ist fürs Verhältnis der Bürger zu Europa?

Typisch nicht im Sinne von: Wir sind so wahnsinnig weit weg, sondern im Sinne von: Wir sind so wenige. Die Bundesrepublik schickt ja jetzt nach der Europawahl nur 96 Abgeordnete ins Parlament...

...drei weniger als bisher...

...so ist das. Und wenn Sie die Sozialdemokraten nehmen: Mit 23 Parlamentariern müssen wir das ganze Bundesgebiet abdecken. Die Leute haben also nur sehr punktuell die Chance, mich kennenzulernen. In letzter Zeit war ich vor allem mit Industrie-Unternehmen im Gespräch, die viel Sorge haben: um CO2-Zertifikate, Energiepreise, überhaupt die ganze Industriepolitik...

Ernste Themen, allesamt. Derweil kalauert Zippert in der „Welt“ über eine neue EU-Richtlinie für die Luftqualität in Fahrradreifen. Und Kabarettist Dieter Nuhr schwant, dass demnächst der Europa-Kommissar bei ihm auf der Matte steht und fragt: Du willst doch wohl bei diesem Wetter nicht ohne Pulli raus... Eignet sich Europa oft nur noch als Witz?

Nein, auch wenn Europa in der Vergangenheit einiges dazu getan hat, sich lächerlich zu machen. Der Spott ist aber sehr oft unverdient. Natürlich werde ich oft mit der Frage konfrontiert: Warum macht Ihr das mit den Staubsaugern...?

...oder warum kann ich keine alten Glühbirnen mehr kaufen...?

So. Die Idee dahinter ist ja nicht: Wie ärgern wir mal die Leute? Sondern: Wie sparen wir Energie? Wie schützen wir das Klima? Die Glühbirne ist Technologie aus dem 19. Jahrhundert. Wenn ich die Geschichte so herum erzähle, nicken alle mit dem Kopf.

Muss sich schämen, wer Wissenslücken über Europa aufweist?

Nein, denn als der Plan für ein Ölkännchen-Verbot in Restaurants aufkam, habe ich auch selbst erst mal geguckt: Ist das überhaupt wahr? Denn über Europa wird vieles geschrieben, was nicht selten – na, sagen wir mal: intensiver hätte recherchiert werden können.

Aber die Ölkännchen-Nummer stimmte.

Und wir haben in der darauffolgenden Straßburg-Woche ab Montagnachmittag angefangen, Herrn Barroso bei jeder Gelegenheit dafür zu „verdreschen“. Schon Mittwochmittag hat er gesagt: Okay, wir machen das nicht.

Selbst die angesehene „Zeit“ hat erst dieser Tage die Sache mit der Gurken-Krümmungsverordnung noch mal geradegebogen.

Denn die ist längst abgeschafft, was übrigens an anderer Stelle für Protest sorgt. Neue Schlangengurken haben mittlerweile einen Plastikfolienüberzug.

Was einen sehr aufregt.

Aber gut gemeint ist: Die soll verhindern, dass die Gurken in der Kiste aneinander stoßen und schwarze Stellen bekommen. So etwas kaufen die Kunden nicht gerne. Aber um das gleich zu sagen: Es ist keine EU-Norm. Und jene, die die Maschinen einrichten, sind nun sauer, weil die Regelung abgeschafft ist. Weil man jetzt die Maschinen anders konstruieren muss. Also: Wie wir’s machen, ist es verkehrt. Es geistert in der Europapolitik längst der Begriff des „Reputations-Risikos“ umher.

Aber ist der Ruf erst ruiniert, regelt es sich doch ganz ungeniert.

Das ist ein Stück weit so. Und das macht es einem Europa-Politiker natürlich auch nicht leicht.

Weil viele die EU nur noch mit Bürokratie und Regelungswut verbinden. Und weit und breit niemand, der noch bereit wäre, für Europa Schlagbäume auszureißen.

Die sind ja auch weg, die muss niemand mehr ausreißen.

Aber in den Köpfen versperren sie noch manchen Gedanken.

Da sind sie massiv vorhanden, ja. Aber wenn wir mal bei der Regelungswut bleiben wollen: Ich habe mal mit einer Runde von Stadtplanern deren größte Probleme erörtert, und siehe da: Drei der vier Probleme, waren in der Landeshaushaltsordnung festgelegt.

Ist Europa-Politik so gesehen immer noch ein Volkshochschulkurs?

Nö, das wird eigentlich immer leichter. Und die Personalisierung, die wir in diesem Wahlkampf haben, hilft extrem. Weil man jetzt sagen kann: Wollt Ihr den? Oder woll Ihr den?

Aber im Gegensatz zu Herrn Schulz on der SPD hängen von Herr Juncker doch nirgends Plakate.

Das ist ja nicht mein Problem.

Auch wieder wahr. Doch bei alledem müssen Sie einräumen: Die Europa-Skepsis wächst. Und mit ihr der Kreis EU-kritischer Euro-Parlamentarier.

Der wird wachsen, ja. Aber man muss dann schon in jedem Land genau hinschauen: Wo kommt diese Europa-Skepsis her? Im Vereinigten Königreich etwa ist EU-Bashing absoluter Sport.

Was glauben Sie, wie sähe eine Volksabstimmung über die EU in Deutschland aus?

Wenn man heute auf der Straße fragte? Deutlich über 50 Prozent Zustimmung würde ich sagen. Weil die Ukraine-Krise schon dafür sorgt, dass die Leute wieder das Gefühl haben: Moment, das ist alles nicht so gottgegeben wie’s aussieht und vielleicht doch ganz gut, Instrumente zu haben, die dafür sorgen, dass wir miteinander kooperieren.

Niemand hat so viel für die europäische Einigung getan wie Putin?

Da ist was dran. Joschka Fischer hat das in einer Kolumne sehr schön auf den Punkt gebracht: Europa zerbröselt, weil keiner mehr eine Idee hat, wofür man das braucht. Jetzt kommt der polnische Ministerpräsident Donald Tusk und sagt: Eigentlich müssen wir gucken, dass wir von russischen Energielieferungen unabhängig werden, und das kriegen wir nur europäisch hin. Da ist plötzlich aus der Krise heraus eine Idee. Ich glaube, das spüren die Leute. Aber natürlich muss man auch ein bisschen für die ganze Sache werben.

Nun ist die Europawahl mit der Kommunalwahl verbunden, und so wie’s scheint, hilft das der Beteiligung an der Europawahl auf die Sprünge.

Absolut, ja. Aber ich behaupte: Auch ohne die Kommunalwahl wäre die Teilnahme...

...die in Essen von einstmals 65 zuletzt auf nur noch knapp über 38 Prozent gesunken ist...

...wieder ansteigen. Es ist mehr Mobilisierung da, die Personalisierung trägt dazu bei, dass man mehr über politische Konzepte redet. Die Leute merken: Hier passiert Wichtiges.

Und Sie finden Europa in der Wahrnehmung nicht immer noch irre abstrakt?

Nein. Was in Brüssel entschieden wird, kann für viele Menschen ungeheuer schnell ungeheuer konkret werden. Wenn etwa diese Idee der Wettbewerbshüter hinsichtlich des Erneuerbare Energien-Gesetzes Realität geworden wäre, hätten wir Massenarbeitslosigkeit riskiert. Wir machen schon konkrete Gesetze...

...aber manchmal auf der Ebene des kleinsten gemeinsamen Nenners.

Sehe ich nicht so. Im tagtäglichen Gesetzgebungs-Prozess kommt mehr dabei raus. Sicher stehen wir oft vor der Entscheidung: Nehmen wir das nun an, weil es besser ist als die Situation vorher? Oder lehnen wir es ab, weil es weniger gut ist, als wir wollten? Da muss man abwägen, aber das ist das tägliche Brot in der Politik.

Dieser europäische Parlaments-Alltag, von dem Sie reden – wie haben Sie den erlebt, als sich im Zuge der Finanzkrise vor gar nicht so langer Zeit der Eindruck breit machte, das fliegt uns alles um die Ohren?

Die Sorge hatte ich nicht. Es gab im Europäischen Parlament und auch bei den europäischen Institutionen eine große Einigkeit darüber, dass wir die Währungsunion und die Einheit der EU verteidigen.

Ich meine eher die öffentliche Wahrnehmung, befeuert auch durch manche Medien. Damals hätte das Wort des Bundespräsidenten zum Thema Asyl auch auf Europa gut gepasst: Warum machen wir unser Herz so eng, warum reden wir immer nur von „unserem“ Geld...

Ich habe in der Tat auch heute noch damit zu tun, den Eindruck zu korrigieren, als gäbe es da so eine Geld-Pipeline aus Berlin nach Athen. Und der Bundesfinanzminister kippt auf der einen Seite Geld rein und auf der anderen Seite regnet es irgendwie raus – womöglich noch auf die Falschen. Ich stelle dann immer erst mal richtig, dass es hier größtenteils um Bürgschaften geht. Und nur in einem sehr sehr sehr geringen Maße um Finanztransfer. Man muss für die Bürger einen Plausibilitäts-Check machen bei dem, was ihnen andere Leute erzählt haben.

Was etwa die AfD erzählt hat?

Ja. Ich hatte erst neulich so ein Zusammentreffen Duisburg, wo eine Gruppe der AfD im Publikum saß und mit Schweizer Fähnchen winkte. Einer kam danach zu mir und sagte: Herr Geier, Sie sind eine Gefährdung der nationalen Sache.

Jesses. Warum das?

Weil ich in 93 Prozent der Fälle mit meine Fraktion stimmen würde. Da habe ich zurückgefragt, was denn der nationale Standpunkt bei den CO2-Zertifikate-System sein soll, das im Moment nicht gut funktioniert: Da kriege ich nämlich Post von einem in Essen beheimateten Energieerzeuger, ich solle dafür stimmen. Und ein Essener Technologie-Unternehmen fordert, ich solle dagegen votieren.

Täuscht der Eindruck, oder wird manche Euroschelte nur als Vorwand genutzt, um latente Ausländerfeindlichkeit zu pflegen?

Das spielt sicher eine Rolle. Wobei da manches munter durcheinander geht. Zuwanderung in all ihren Facetten gilt als Problem, da wird nicht mehr sauber unterschieden.

Dennoch scheint klar: Die Zahl der Euro-Skeptiker im Parlament wird zunehmen.

Die AfD wird drin sein, ohne Prozenthürde ist das glasklar. Die Frage ist nur, wie stark wird sie. Es lässt sich so schwer beurteilen: Wie viel an Protest-Potenzial saugt sie weg?

Und international?

Es wird am rechten Rand ungeheuer zerfasern. Aber wir werden eine harte rechtsextreme Fraktion bekommen. „Lega Nord“, „Front National“, „Vlaams Belang“, „PVV“ und so weiter: Die kriegen die 25 Abgeordneten aus sieben Ländern, die man mindestens haben muss, um eine Fraktion zu bilden, zusammen, davon bin ich fest überzeugt. Das wird dazu führen, dass es mehr Fensterreden von der ganz unappetitlichen Art geben wird. Aber die werden natürlich nicht Politik unmöglich machen.

Gilt also das Kahnsche Bonmot: Mund abputzen und weitermachen?

Ja, so ungefähr. Es wird am 26. Mai nicht „Puff“ machen, und die EU ist weg. Wir werden unseren Job weitermachen. Nur die sind dann halt da, die wollen aber nix besser, die wollen nur Sachen kaputtmachen. Ich bin halt bei denen, die dieses Europa besser machen wollen, das ist die gemeinsame Klammer über mindestens vier Fraktionen. Da setzen sich mal die einen und mal die anderen durch. Das Schöne am Europäischen Parlament ist ja: Ich bin nicht gebunden an irgendwelche Fraktionszwänge. Die Lösungen suchen sich ihre Mehrheit. Ich kann mal mit den britischen Tories stimmen, mal mit den Linken, am Tag später mit den Liberalen.

Und damit löst man kein Stirnrunzeln aus?

Überhaupt nicht.