Essen. In der Nacht auf den 6. März 1943 bricht das Bomben-Inferno über Essen herein. Die Allierten werfen alleine 122.000 Stabbrandbomben ab.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text über die Auswirkungen der Bombenangriffe auf Essen ist erstmals im Jahr 2014 erschienen
Dieses Dröhnen Hunderter Flugzeugmotoren - Paul Werner hat es noch heute im Ohr. 17 Jahre ist er, Schüler des damals wie heute mitten in der Innenstadt gelegenen Burggymnasiums, und in jener Nacht vom 5. auf den 6. März 1943 hält er die Brandwache im Schulgebäude. Die älteren Schüler waren verpflichtet aufzupassen, dass durch die erst noch sporadischen Angriffe kein größerer Schaden entstand. Das war nicht ungefährlich, aber dank einer Brandschutzausbildung bis dahin noch ein halbwegs kalkulierbares Risiko.
Gegen halb neun kommen die Bomber in einem großen Pulk, angestrahlt von den Scheinwerfern der deutschen Flugabwehr, die rings um Essen stationiert ist. „Mir war sofort klar, dass es weit mehr Bomber waren als je zuvor“, sagt Paul Werner.
Markierungs-Flugzeuge hatten vorab das Geviert der Innenstadt abgesteckt, in das die britischen Piloten ihre Bomben werfen sollten. „Es war das erste Mal, dass ich diese Leuchtsäulen sah, die wir Christbäume nannten“. Niemand in Essen ahnt die furchtbare Präzision, mit der die Briten dank neuer Radartechnik ihren für Essen vorgesehenen Bombenmix aus 122.000 Stabbrandbomben, 1000 Sprengbomben und 17.000 der tückischen Phosphorkanister ins Ziel bringen konnten.
Über dem Essener Stadtkern bricht das Inferno herein
Auch interessant
„Als ich den Alarm hörte, bin ich erst auf den Dachboden, habe meine Löschausrüstung geholt.“ Während der 17-Jährige schwer beladen durchs Treppenhaus nach unten hastet, bricht über den Stadtkern schon das Inferno herein.
„Im Burggymnasium gab es einen Luftschutzkeller, da bin ich erst mal rein.“ Auch 25 Menschen aus den umliegenden Häusern haben es rechtzeitig geschafft. „Die Innenstadt und das Areal der heutigen Schützenbahn waren geschlossene Wohngebiete mit vielen alten Häusern“, sagt Werner. Übrig bleiben wird von dieser uralten, kleinteiligen Struktur nach dieser Nacht so gut wie nichts. Nach 40 Minuten drehen die Bomber ab - nun kommt es auf die Geistesgegenwart an.
Wer nach dem Bomben-Regen im Keller bleibt, der erstickt, verglüht, verbrennt
Wer in den Kellern bleibt im verständlichen Glauben, hier sei der Schutz größer, ist oft verloren - er erstickt, verglüht, verbrennt. „Ich rief: 'Raus, raus. Wir müssen raus, sonst werden wir sterben.' So hatte ich es in der Ausbildung gelernt.“ Nicht jeder mochte zunächst folgen, aber Paul Werner setzte sich durch.
Der erste Schritt auf den Burgplatz - ein gespenstisches Bild: „Die Stabbrandbomben steckten wie Fackeln im Boden. Die uralte Münsterkirche gegenüber - schon in hellen Flammen. Zum Hauptbahnhof! - das war Werners Plan. Weg von den Häusern mit viel altem Holz, weg von den eng bebauten Vierteln, die brannten wie Zunder. Mit feuchten Tüchern notdürftig geschützt, eilt die Gruppe über die Kettwiger Straße nach Süden. „Dort brannten erst die Dächer, so dass wir noch passieren konnten.“
Essen erlebt in dieser Nacht den berüchtigten Feuersturm
Schnell frisst sich das Feuer, angeheizt durch unlöschbaren Phosphor, in die unteren Etagen durch, aus Häusern werden rasch riesige Fackeln, die sich vereinigen mit dem Feuer des Nebenhauses, des Blocks und schließlich des ganzen Stadtviertels. Der berüchtigte Feuersturm - auch Essen erlebt ihn in dieser Nacht. „Eine brennende Stadt saugt den Sauerstoff ein, dieses Heulen, der starke, heiße Wind - Sie können sich das nicht vorstellen.“
Werner führt die Gruppe zur Freiheit, wo das Gebäude des Ruhrkohlensyndikats steht, das spätere Ruhrkohle-Haus. Er hat noch immer seine Löschausrüstung auf dem Buckel. Er geht in das nicht allzu schwer getroffene massive Gebäude und löscht, was er kann. Ein Schreiben der Direktion, das der 87-Jährige noch immer in Ehren hält, spricht ihm für diese Rettungstat großen Dank aus.
Die Nacht, in der seine Heimatstadt unterging, hat er nie vergessen
Im Rückblick ist Paul Werner stolz, dass er funktionierte, dass er trotz seiner erst 17 Jahre wohl Menschenleben rettete. Zwei Monate nach dem Ereignis wird er eingezogen zur Ostfront, erleidet zweimal schwere Verwundungen. Paul Werner wird später Jurist und hat sein Leben gelebt. Aber die Nacht, in der seine Heimatstadt unterging, hat er nie vergessen. „Das ist mein schwerstes Trauma.“
Dass Essen im Zweiten Weltkrieg Bombenangriffe erleben würde, verstand sich von selbst. Schon der Name Krupp musste die Kriegsgegner herausfordern. Dank des Bunkerbaus war die Zahl der Opfer geringer, als es der Zerstörungsgrad vermuten lassen würde.
Beim ersten Großangriff am 5. März 1943 starben 461 Essener, 1593 wurden verletzt. Von Kriegsbeginn bis zum 4. März 1943 waren 1344 Spreng- und 101 065 Stabbrandbomben auf Essen gefallen.
Ab 1943 folgte ein Angriff auf den nächsten
In diesen vier Jahren kamen 562 Essener ums Leben. 1943 folgte Angriff auf Angriff, allein in den Monaten März, April, Mai und Juni 1943 fielen 4251 Essener den Luftangriffen zum Opfer. Bei Kriegsende beklagte Essen 6384 zivile Tote durch Bombardierungen.
Zum Vergleich: Bei einem einzigen Angriff auf Hamburg 1943 starben 34 000 Menschen. Die Bilanz der Stadtzerstörung: Von den 185 300 Vorkriegswohnungen waren 64 000 total zerstört und 36 000 schwer beschädigt. Vollkommen unversehrt geblieben waren nur ganze 6300 Wohnungen. Die Altstadt war zu 93 Prozent vernichtet, in einem fünf Kilometer großer Radius um den Stadtkern herum gab es praktisch kein unbeschädigtes Haus.
Als US-Soldaten am 11. April 1945 in Essen einmarschierten, lebten nur noch 285 000 Menschen in der zerbombten Stadt. Die Aufbauleistung in der Nachkriegszeit mutet bei diesen Zahlen sensationell an – und mancher Fehler erscheint da vielleicht auch verzeihlich.