Das zweite Gesicht von Karl Schwochert - der Frontkämpfer
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Essen. . Berthold Prochaska aus Gerschede kannte seinen Großvater Karl Schwochert (1884 - 1963) nur als einen „ruhigen, ausgeglichenen und gläubigen Menschen“. Erst als ihm 30 Jahre nach dessen Tod ein Kuvert mit Erinnerungsstücken in die Hände fiel, lernte er seine andere Seite kennen: den Frontkämpfer.
„Mein Gott, der Opa!“. Berthold Prochaska (76) kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, als er vorsichtig den geheimnisvollen Umschlag öffnet, den ihm seine hochbetagte Tante Walburga eines Tages anvertraut. Wie kostbar dieses Kuvert ist, spürt der Gerscheder auf Anhieb. Ein gut erhaltenes Soldbuch hält er in Händen, einen „Militärpaß“, der den „Eintritt in das stehende Heer“ auf den 2. Oktober 1906 datiert, ein zackiges Ehrenkreuz für Frontkämpfer, Urkunden, Fotos und vieles mehr. Lauter Dinge, die seinen Großvater mütterlicherseits, Karl Schwochert (1884-1963), schlagartig in ein völlig neues Licht rücken.
„Mein Großvater hat in seiner Familie nichts über den Ersten Weltkrieg erzählt“, sagt der Enkel. Als „einen ruhigen, ausgeglichenen und gläubigen Menschen“ hat er ihn in Erinnerung. Als den gelernten Schuhmacher, der später bei Krupp als Beizer arbeitete. Doch nun betritt auf einmal ein ganz neuer Großvater die Bühne, ein Kämpfer und Kriegsheld, der von Schlachtfeld zu Schlachtfeld eilte und sogar das Inferno von Verdun, die blutigste Schlacht des Krieges, wie durch ein Wunder ohne irgendeine Verletzung überlebt hat. Fein säuberlich und in steiler Sütterlin-Schrift hält der Militärpaß jeden Einsatz detailliert fest: „Erstürmung von Gonog le Chateau“, „Stellungskämpfe nördlich der Ailette“, „Abwehrschlacht in der Champagne“, „Rückmarsch durch Lothringen“. Berthold Prochaska liest diese Zeilen mit einer Mischung aus Unglauben und Staunen. „Der Opa hat wenig gelacht, höchstens mal gegrinst“, erinnert sich der Enkel, und fügt hinzu: „Stolz war er auf seine Kriegszeit bestimmt nicht, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass er, der gläubige Christ, auf andere Menschen geschossen hat.“
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Was mag Karl Schwochert wohl gesehen haben? Die zerfetzten Leiber seiner Kameraden? Die letzte Träne im Auge des Sterbenden? Monströse Leichenberge auf beiden Seiten der starren Frontlinie? Kann es gar sein, dass er die Tür zur Hölle einen Spalt geöffnet hat? „So gerne hätte ich mehr von ihm erfahren“, seufzt Berthold Prochaska.
Mehr auch über das karge Familienleben daheim in Essen. Denn dort - eigentlich unglaublich - ist am 27. Juli 1914 Anna, die älteste Tochter und Prochaskas Mutter auf die Welt gekommen: Nur drei Wochen bevor der Vater den Waffenrock überstreift und als preußischer Wehrmann für „Kaiser und Vaterland“ in den Krieg zieht. Anna gehört zu jener traurigen Kriegskinder-Generation, der der eigene Vater ein Fremder ist. „Wann geht der wieder?“, hat das Kind gefragt, wenn der Vater gelegentlich auf Heimaturlaub Zuhause war.
Berthold Prochaska, gelernter Industriekaufmann und seit 2000 Rentner, ist ein wandelndes Geschichtsbuch. Für den Kulturhistorischen Verein Borbeck verfasst der Hobbyhistoriker eifrig Aufsätze, und die Leitz-Ordner mit der Familienchronik der Schwocherts und Prochaskas füllen längst schon einen Bücherschrank. Langsam blättert er im Ordner mit der Signatur „1908 - 1918) Seite für Seite, Klarsichtfolie für Klarsichtfolie um. Und hält bei den prachtvollen Feldpostkarten inne, die der andere Großvater, Alois Prochaska, aus dem Ersten Weltkrieg an die Lieben daheim schickte. Karten mit Motiven voller Idylle und Kitsch, das Grauen des Krieges bewusst verklärend. Die in winziger Handschrift verfassten Grüße an die „Liebe Frau und Kinder“ auf der Rückseite lassen hingegen vorsichtig durchklingen, wie grausam das Leben an der Front ist.
Karl Schwochert trägt längst wieder Zivil, als die Nazis an die Macht kommen und kaltblütig den Zweiten Weltenbrand vorbereiten. Die „Helden“ des Ersten Weltkriegs werden dafür propagandistisch geehrt. Im Namen des „böhmischen Gefreiten“, der jetzt „Führer und Reichskanzler“ ist, erhält Karl Schwochert 1935 das „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“. Doch der Geehrte wird die Hand nicht heben. „Großvater hat die Nazis absolut abgelehnt.“
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