Essen. . Seit 35 Jahren feiern die Karnevalsgesellschaft Fidelitas und die Lebenshilfe gemeinsam Karneval – so auch heute Abend in Kray.

Ihre Vorfreude ist enorm, die teils eigens für den Festabend geschneiderten Kostüme liegen schon lange bereit – ja, die geistig behinderten Bewohner der Häuser der Lebenshilfe sind aufgeregt, wie jedes Jahr. Denn es wird wieder geschunkelt, gefeiert und getanzt – in der Jugendhalle an der Krayer Marienstraße. Das hat Tradition. Der „Karneval der Lebenshilfe“, ja er ist ein Höhepunkt im Kalender des Elternvereins und auch in dem der Großen Karnevalsgesellschaft Fidelitas Essen Kray. Seit 35 Jahren feiern die zwei Vereine zusammen, mit und für geistig wie körperlich behinderte Essener, ihre Eltern, Freunde und alle, die das jecke Treiben der Fidelitas begeistert, die mit Fug und Recht – so wird getuschelt – das Frohsinns-Monopol in der Stadt inne hat. Doch so fröhlich, bunt und vor allem professionell war der „Karneval der Lebenshilfe“ nicht von Anfang an. „Nein, im Ge­genteil, es war eine fürchterliche Veranstaltung“, sind sich Helga Scheel, lange Jahre Vorstand der Fidelitas und Lebenshilfe-Mitglied, und der frühere Lebenshilfe-Chef Rolf Pletsch einig.

Scheel erinnert sich noch gut an ih­ren ersten Besuch beim Lebenshilfe-Karneval, das war Ende der 1970er Jahre, als beide Vereine noch nicht gemeinsame Wege gingen. „Damals, im alten Saalbau, stand ein gammeliger Plattenspieler auf der Bühne, der für den vollen Saalbau Musik spielen sollte.“ Doch die mal leisen, mal lauten Töne hätten viel mehr gelärmt als Frohsinn verbreitet. Dann, schildert Scheel, sei eine Tanzgruppe aus den Reihen der Lebenshilfe aufgetreten. „Immer wenn auf der Riesenbühne getanzt wurde, sprang die Nadel wegen der Erschütterung hoch und es plärrte nur noch durch den Saal.“ Damals hat Helga Scheel den Kontakt zum Verein geknüpft und angeboten, „mit der Fidelitas die Feier ein bisschen größer und schöner aufzuziehen und vor allem mit professionellen Darbietungen“, erzählt die Rentnerin, die seither den Karneval der Lebenshilfe organisiert. „Die Feier wurde so erfolgreich, dass heute alle im Verein gerne mitmachen und zur Stelle sind, wenn es wieder mal heißt: Wir feiern mit der Lebenshilfe“, betont Ingrid Thiedemann, er­ste Vorsitzende bei Fidelitas.

Wurde gegen Ende der 1970er Jahre noch in den Räumen der Gaststätte Kuhaupt am Saalbau gefeiert und später im Jugendzentrum Papestraße (JZE), bitten die Vereine seit einigen Jahren in die Jugendhalle Kray an der Marienstraße. Aus knapp 200 Teilnehmern

wurden mit den Jahren 300 plus X. „Heute laden wir nicht nur die Bewohner aus unseren Häuser ein, sondern auch die aus anderen Wohnstätten – die von Diakonie oder Caritas“, sagt Pletsch, der selbst ei­nen geistig behinderten Sohn hat.

Sichtlich berührt ist es ihm besonders wichtig zu betonen, dass der Impuls gemeinsam zu feiern von der Fidelitas, „also von den Normalsinnigen ausging, wie es in unserem Jargon heißt.“ Denn Ende der 1970er Jahre sei es schließlich noch lange nicht „normal“ gewesen, ein behindertes Kind zu haben. Pletsch: „1976 kamen die ersten Förderschulen, bis dahin haben viele ihr geistig behindertes Kind zu Hause versteckt.“ Mit dem Bau von Wohnstätten für Ende der 1980er bis Anfang der 90er Jahre sei das Thema immer mehr in die den Fokus der Gesellschaft gerückt und wahrgenommen worden. In der Fidelitas war das gemeinsame Feiern „Normalsinniger“ und geistig Behinderter da schon lange Normalität.

Und das ist es auch dieses Mal, wenn der Fidelitas-Elferrat gemeinsam mit dem der Lebenshilfe in den Saal einmarschiert, wenn das Stadtprinzenpaar und das Kinderprinzenpaar ihre kleinen Ständchen auf der Bühne geben und wenn ausgelassen gefeiert wird – natürlich gemeinsam, mit und ohne Behinderung, so wie in den vergangenen 35 Jahren.

Die Lebenshilfe

Der lokale Ableger der Lebenshilfe besteht in Essen seit 1961. Er wurde von Eltern geistig behinderter Menschen gegründet. Heute hat die Lebenshilfe Essen über 200 Mitglieder, die Belegschaft zählt 170 Köpfe. Schwerpunkt der Vereinsar­beit sind voll- und teilstationäre Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung. Die Lebenshilfe betreut und fördert 98 Erwachsene mit geistiger Behinderung in zwei Wohnstätten, einer Außenstelle und drei Außenwohngruppen. Deren Angebot wird durch tagesstrukturierende und freizeitpädagogische Angebote sowie Möglichkeiten der Verhinderungspflege ergänzt.

Der Bundesverband der Lebenshilfe wurde 1958 in Marburg gegründet. Er hat 132.000 Mitglieder. Über 150.000 geistig Behinderte werden von mehr als 3.000 Einrichtungen sowie Diensten der Lebenshilfe direkt betreut und gefördert.