Essen. . Vor über einem Jahr erstattete die junge Mutter Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs gegen ihren Stiefvater. Musste die 23-Jährige deshalb sterben?
Mit jedem Brocken, den die Todes-Ermittler aus Madeleines schrecklicher Betongruft im Borbecker Kleingarten Hesselbach holten, warfen sie Fragen über Fragen auf. Sie alle nur einen Tag nach dem Fund der Leiche des 23 Jahre alten Mordopfers aus Gelsenkirchen zu beantworten, ist den Behörden nicht möglich. Natürlich nicht. Wie soll das auch gehen? Zeugen müssen vernommen werden, und die Auswertung aller Spuren wird unter Umständen Wochen dauern, um unter anderem das Unvorstellbare zu erfahren: Wurde die junge Frau womöglich lebendig begraben, während ihre kleine Tochter vergeblich im Kindergarten auf sie wartete, oder war sie bereits tot, als sie an Händen und Füßen gefesselt und geknebelt in die 1,30 Meter tiefe Grube am Rande der Kleingartenparzelle ihres Stiefvaters geworfen und dann mit Beton übergossen wurde? Es läuft die Suche nach Erkenntnissen, die die 23-Jährige zwar nicht wieder lebendig machen können, die jedoch gewonnen werden müssen für einen mehr als wahrscheinlich geltenden Mordprozess gegen ihre Peiniger.
Die Ermittlungen laufen noch
Kurzum: Die Ermittlungen sind längst nicht abgeschlossen, auch wenn die beiden Menschen, die die junge Mutter mutmaßlich auf dem Gewissen haben, inzwischen in Untersuchungshaft sitzen. Doch Günter O. (47), der Stiefvater und ehemaliger Platzwart eines Borbecker Fußballvereins, und Madeleines Halbbruder (21), die unter dem Verdacht des gemeinsamen Mordes stehen, wollen der Mordkommission nicht weiterhelfen. Sie streiten die Vorwürfe ab oder hüllen sich in Schweigen.
So harren auch die Fragen wo und wann die junge Frau auf hinterhältigste Weise umgebracht wurde, weiterhin eindeutigen Antworten. Nur was das mögliche Motiv der beiden mutmaßlichen Täter angeht, hat Oberstaatsanwältin Birgit Jürgens zumindest eine Vermutung: Eine Strafanzeige der jungen Frau wegen sexuellen Missbrauchs durch den Stiefvater könnte der Auslöser für die tödliche Familientragödie gewesen sein. „Wir gehen davon aus, dass das der Grund war“, sagte die Chefin der Kapitalabteilung an der Zweigertstraße gestern auf Nachfrage. Was plötzlich eine ganz neue, ganz andere Frage aufwirft im Mordfall Madeleine: die nach der Rolle der Behörden.
Denn Fakt ist: Vor über einem Jahr bereits hat sich Madeleine W. ein Herz gefasst. Sie ist zur Polizei gegangen und hat schwere Vorwürfe gegen Günter O. erhoben. Mehrfach soll der Stiefvater sie missbraucht haben.
Fakt ist auch: Der 47-Jährige ist der Vater der zweijährigen Tochter seiner Stieftochter. Dies hat ein Vaterschaftstest zweifelsfrei ergeben.
Fakt ist zudem: Es existiert ein Gutachten, das der Staatsanwaltschaft vorliegt und das die protokollierten Aussagen des Vergewaltigungs-Opfers für absolut glaubwürdig hält.
Dennoch sind die Behörden bis zu dem Tag, als Madeleine von ihrem neuen Lebensgefährten als vermisst gemeldet worden war, offenbar weitgehend untätig geblieben. Dafür gibt es offenbar eine Erklärung. Doch die scheint nicht für die Öffentlichkeit zu taugen. „Es hat sachliche Gründe gegeben, warum keine weiteren Maßnahmen ergriffen worden sind“, sagt Oberstaatsanwältin Jürgens schlicht. Mehr sagt sie nicht. Auch nicht dazu, über welchen Zeitraum Madeleine W. von ihrem Stiefvater missbraucht worden sein soll. „Da sage ich nichts zu.“ Madeleine hat Hilfe gesucht, doch sie bekam nur vorübergehend Schutz vor ihrem Peiniger – in einem Frauenhaus.
Mit der vermeintlichen Idylle im Schrebergarten zwischen Weidkamp und Köttelbecke ist’s eh erst einmal vorbei: Der Wind fleddert an einem Sonnenschirm, hinter dem die Ermittler die Leiche auf der Parzelle Günter O.s hatten ausgraben lassen, und Armin Everts Weltbild hat Risse gekommen. „Wir hatten bis dato eine gute Meinung von den Menschen“, sagt der Eigentümer eines Mehrfamilienhauses an der Carl-Kruft-Straße in Bergeborbeck. Dort haben die beiden mutmaßlichen Täter gewohnt, bevor die Polizei am Dienstagabend zugriff. Der Lüge, dass Günter O. in Sachsen unterwegs war, hatten sie nie Glauben geschenkt. Gerüchtweise soll der 47-Jährige vielmehr in der Laube seines Kleingarten untergetaucht sein, was die Behörden jedoch nicht bestätigten.
In die Wohnung ihres Vermieters Everts werden die beiden vermutlich nie wieder zurückkehren. Seit einem Jahr wohnten sie da, sagt Everts. Ein Nachbar habe sie ihm als Mieter empfohlen. Beide seien sie immer „umgänglich und freundlich“ gewesen. Und gegrüßt haben sie auch immer.