Essen. Offen sagt es bis zur Ratswahl am 25. Mai 2014 niemand, im vertrauten Gespräch werden Essener Partei-Granden dafür umso deutlicher: Die Entfremdung zum Oberbürgermeister ist zu groß, als dass eine zweite Amtszeit möglich wäre. Drei Namen werden als SPD-Kandidaten für die OB 2015 genannt.
„Vor der Kommunalwahl am 25. Mai 2014 reden wir nicht über Namen“, sagt SPD-Chef Dieter Hilser, „klar ist aber, dass die Essener SPD im November ihren OB-Kandidaten oder ihre OB-Kandidatin nominieren wird“. Der Satz kommt scheinbar harmlos daher, umschreibt aber nur das absolute Minimum an Loyalität, das die SPD einem amtierenden „eigenen“ OB zugesteht. Die Wahrheit ist: Wenn kein Wunder geschieht, wird es für Reinhard Paß eine zweite Amtszeit als Oberbürgermeister nicht geben, jedenfalls nicht auf dem Ticket der SPD. Bei der OB-Wahl im September 2015 werden die Karten in Essen mit ziemlicher Sicherheit völlig neu gemischt.
Wer in der Partei jemanden finden will, der ansatzweise etwas Positives über den OB sagt, braucht viel Ausdauer - auch wenn Paß selbst vorgibt, einen anderen Eindruck zu haben. Die meisten haben ihn aufgegeben, gedanklich schon zur Seite geschoben. Die Irritationen begannen kurz nach dem Start seiner Amtszeit („Ich will mehr Bürger sein als Meister“), sie steigerten sich durch fatale Fehler wie den EBE-Skandal, und über blutleere Verstiegenheiten wie „Essen 2030“ spotteten viele Sozialdemokraten nicht weniger als die Konkurrenz.
Paß hat verloren, was kein Stadtoberhaupt entbehren kann: Respekt
Endgültig fiel der Vorhang, als der 58-jährige sich im November 2013 dem überwältigenden Wunsch der SPD verweigerte, am 25. Mai mit der Ratswahl auch selbst anzutreten und sein Amt zu verteidigen. Als SPD-Ortsvereinsvorsitzende danach öffentlich hemmungslos über den OB herfielen, mochte einem der Mann schon fast leid tun. Reinhard Paß hat verloren, was kein Spitzenpolitiker, kein Stadtoberhaupt entbehren kann: Respekt. Er genießt diesen weder in der SPD noch in der Landesregierung, die zunehmend fassungslos nach Essen blickt. Es herrscht vor allem Mangel an einer entscheidenden politischen Lebensversicherung, die ein OB mit wenig Rückhalt in der Partei niemals verlieren darf: den Respekt der Bürger.
Schon nicht mehr entscheidend war der verlorene Messe-Entscheid, er komplettierte nur das Bild: Auch das wichtigste Projekt seiner Amtszeit ist damit gescheitert. Paß‘ Trotz-Reaktion am Wahlabend, seine Wähler-Kritik, das Wort vom „Abstieg“ der Stadt, all das trug schon Zeichen der Distanz und der fortgeschrittenen Resignation. Wer so redet, der weiß oder ahnt, dass er nicht mehr taktisch agieren, keine Wahl mehr gewinnen muss, weil es für ihn keine mehr geben wird.
Thomas Kutschaty, Oliver Scheytt und Britta Altenkamp werden genannt
Die Frage ist nun: Wie geht es weiter? Essen ist strukturell immer noch eine Stadt, in der ein SPD-Kandidat gute Chancen hat OB zu werden - zumal dann, wenn er auf einen CDU-Gegner trifft, der selbst keinen Amtsbonus hat. Es sind drei Essener Sozialdemokraten, die derzeit immer wieder genannt werden: NRW-Justizminister Thomas Kutschaty, der frühere Essener Kulturdezernent Oliver Scheytt und Britta Altenkamp, Vizechefin der SPD-Landtagsfraktion. Niemand aus diesem Trio äußert sich öffentlich, was vor dem 25. Mai auch Harakiri wäre. Hochrangige Sozialdemokraten bestätigen aber: „Mit diesen Namen liegen Sie nicht falsch.“
Thomas Kutschaty (45) ist so etwas wie der Wunschkandidat der Partei, hat nach Aussagen von Weggefährten aber (noch) wenig Interesse, weil er einfach viel zu gerne Justizminister ist. Er brächte einiges mit für den OB-Job. Sein Ressort hat er gut im Griff, das ist Voraussetzung. Gerühmt wird aber auch seine Gabe, mit Gerichtspräsidenten genau so gut ins Gespräch zu kommen wie mit Kleingärtnern.
Kutschatys Dilemma: Er ist für Wahlkampfzwecke schwer abkömmlich
Der in der SPD gut vernetzte Borbecker hat ein Handicap: Sein Ministerium fordert den ganzen Mann, und zwar jederzeit. „Man stelle sich vor, Kutschaty ist im OB-Wahlkampf, und im Bochumer Knast bricht ein Gewalttäter aus“, beschreibt jemand aus seiner Umgebung ein nicht unrealistisches Szenario. Für die Opposition wäre die Versuchung übermächtig, dies zu skandalisieren. Tenor: Sieh an, da hat jemand wohl Besseres zu tun als sein Ministerium anständig zu führen. Auch sonst hat Kutschaty einiges zu verlieren. Als womöglich geschlagener OB-Kandidat zurück ins Ministerium zu schleichen, kann für ihn keine prickelnde Vorstellung sein.
Deutlich Weniger zu verlieren als Kutschaty hat Oliver Scheytt, dem nachgesagt wird, wirklich Lust auf die OB-Kandidatur in seiner Heimatstadt zu haben.Der 55-Jährige brächte mit: Weltgewandtheit, erworben auch an der Seite von Peer Steinbrück, intellektuelle Brillanz und immerhin 16 Jahre Verwaltungserfahrung als Kulturdezernent.
Der Organisator der Kulturhauptstadt 2010, der derzeit als selbstständiger Strategie- und Personalberater im Kulturbereich arbeitet, ist allerdings in der SPD nur mäßig gelitten. Es gibt Zweifel, ob er den so genannten „kleinen Leuten“ gut vermittelbar wäre. Zwar ist Scheytt nicht arrogant im engeren Sinn, wirkt aber etwas kühl und nicht sehr leutselig. Auf dem Marktplatz in Katernberg etwa kann das ein Problem sein. Gut vorstellbar hingegen, dass Scheytt mehr noch als Kutschaty im liberalen, kulturbeflissenen Essener Bürgertum kräftig Punkte machen würde zu Lasten des OB-Kandidaten der CDU.
Britta Altenkamp wäre wohl die Wunschgegnerin der CDU
Das wiederum müsste die CDU bei der Landtagsabgeordneten Britta Altenkamp (49) kaum befürchten. Die Parteilinke genießt einen Ruf als gute Organisatorin, liebt die kämpferische Rhetorik und ist in der Sozialpolitik sattelfest. Ob sie in einer inzwischen doch recht bürgerlichen Stadt wie Essen Chancen hat, dürfte aber stark vom Gegenkandidaten und der politischen Großwetterlage abhängen, die ihr thematisch in die Hände spielen müsste. Faustregel: Je linker der Zeitgeist, desto besser für Altenkamp. Für die CDU wäre sie wohl so etwas wie die Wunschgegnerin, Verwechslungsgefahr bestünde wenig, Polarisierung wäre wahrscheinlich. Auch deshalb ist sie in der Essener SPD nicht die erste Wahl. Offen muss bleiben, ob sie selbst überhaupt kandidieren will.
Ohnehin gilt, siehe oben: Vor der OB-Wahl steht erst einmal die Ratswahl. Je stärker die SPD dort abschneidet, je weniger gegen sie im Rat umsetzbar ist, desto größer dürfte potenziell der Andrang auf die OB-Kandidatur sein – und umgekehrt. Denn Reinhard Paß ist nicht nur an sich selbst gescheitert, auch an einer Ratsmehrheit, die ihm ständig Knüppel zwischen die Beine warf. Das wird sich nicht jeder antun wollen.