Essen. . Seit etwa einem Jahr treffen sich Menschen mit und ohne Handicaps beim „Inklusiven politischen Stammtisch“ und diskutieren. Mobilität, die Energiewende und soziale Fragen sind ihre Themen. Sie wollen auf allen Ebenen mitreden: Kommune, Land, Bund. Besonders wichtig ist den Essener Teilnehmern, mit der Politik regelmäßig ins Gespräch zu kommen.

Benjamin Seddig ist aufgeregt, denn gleich geht’s los – hoch oben auf dem Podium. Dort soll er die Moderation übernehmen. Rasch wird die eigens für ihn aufgebaute Rampe noch einmal hergerückt und ein Beistelltisch organisiert, „fürs Glas Wasser, sonst bekomm’ ich nachher keinen einzigen Ton raus“, scherzt der 28-Jährige. Dann ist es so weit: Mehr als 100 Besucher blicken im evangelischen Gemeindezentrum Billebrinkhöhe in Bergerhausen erwartungsvoll zu ihm hoch, denn der junge Mann weiß, was sie bewegt. „Was ich Ihnen immer schon mal sagen wollte...“, richtet sich Seddig mit ruhigen gewählten Worten an die vier Vertreter aus der Kommunal- und Bundespolitik auf dem Po­dium. Und legt los. Dass er im Rollstuhl sitzt, nicht gerade der lauteste und schnellste Redner ist – ja das interessiert im Saal nun wirklich niemanden. Schließlich geht um Inklusion. Egal ob mit oder ohne Handicap – jeder wird mit einbezogen.

Seddig ist einer von rund 30 Essenern, die sich seit gut einem Jahr immer einmal monatlich zum „Inklusiven politischen Stammtisch“ treffen. „Nur weil sie ein oder mehrere Handicaps haben, heißt das nicht, dass sie sich nicht für Politik interessierten – besonders, wenn sie sie selbst betrifft“, weiß Magdalene Merkel von Integrationsmodell Essen (IM). Der Verein (siehe Infobox) ist unter anderem Träger der Wohngemeinschaft, in der Benjamin Seddig lebt – gemeinsam mit drei Frauen und zwei Männer mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen.

Die Stammtisch-Idee wurde gleichermaßen von freiwilligen Helfern, IM-Mitarbeitern und den vielen Bewohnern der IM-Wohngemeinschaften geboren, die sich über die gesamte Stadt verteilen. „Denn viele Bewohner brennen für die Politik. Sie haben Anliegen, die sie bewegen, ja die ihnen wichtig sind. Und sie wollen auch etwas verändern“, sagt Merkel. Doch all zu oft würde in der Politik meist nur über Menschen mit ei­nem oder mehr Handicaps gesprochen, „aber selten mit ihnen. Beim Stammtisch ist das zum Glück ganz anders, weil jeder mitreden darf.“

Über das Ende der Atomkraft wird da diskutiert, den öffentlichen Personen-Nachverkehr, Behindertenfahrdienste und alles, was die Teilnehmer sonst noch so bewegt. Leicht sei das jedoch nicht immer: „Ich bin so stolz auf die Gruppe“, betont Merkel, „vor allem darüber, dass sie bisher noch nicht auseinandergeflogen ist.“ Denn es gäbe Teilnehmer, die ih­re Meinung unbedingt und vor allem sofort mitteilen müssten. „Und wenn das nicht klappt, werden sie gerne wütend, laut und flippen aus“, sagt Merkel. Damit müsse umgehen können, wer zum Stammtisch kommt. „Denn auch wenn es Gesprächsregeln gibt, an die es sich zu halten gilt, klappt es nicht immer.“ Diese Balance sei unwahrscheinlich schwierig – wegen der unglaublichen Dynamik, die behinderten Menschen in der Regel nicht zutraut würde. Merkel: „Der Stammtisch ist die beste Spielwiese, Inklusion zu üben.“

Besonders wichtig sei den Teilnehmern, mit der Politik ins Gespräch zu kommen – so zum Beispiel vor der Bundestagswahl, als die Kandidaten zum Wortgefecht eingeladen wurden. Eine sehr emotionale Debatte. So lässt Karen Reimers ihrem Frust über manches, für das die Politik die Weichen stellt, freien Lauf: „Warum sind so viele Leute arbeitslos, wenn in Krankenhäusern, Pflegeheimen, bei Fahrdiensten und in anderen Berufen Arbeitskräfte fehlen? Warum mussten Firmen früher Behinderte einstellen – und heute dürfen sie sich freikaufen? Warum werde ich in ei­ne Werkstatt für Behinderte gezwungen, wenn ich vorher in einer Firma arbeiten durfte, ein Jahr lang?“ Was Reimers ausspricht, das denken viele im Saal.

Weitere große Diskussionsrunden plant der Stammtisch momentan – etwa zum Thema Mobilität in Essen, zur Kommunalwahl im Frühjahr sowie zum Arbeitsleben mit einer Behinderung. „Ich bin immer ganz froh über die vielen Anregungen aus der Praxis“, sagt Ratsfrau Christine Müller-Hechfellner (Grüne). Ihr würden Treffen wie diese in ihrer politischen Arbeit helfen, „um zu verstehen, was den Betroffenen wirklich wichtig ist und was sie wirklich wollen“.

INFO

1971 wird das Integrationsmodell unter dem Motto „miteinander leben lernen“ in Münster als Verein für integrative Freizeit- und Bildungsarbeit gegründet.

Ziel ist es, der Isolation von Menschen mit einem Handicap in Großeinrichtungen, Sonderschulen und Spezialkliniken entgegenzuwirken. Aus diesem integrativen Ansatz ergibt sich die Denkweise, dass Menschen mit Handicaps ein Recht auf ein Leben „im Miteinander“, also in der Gemeinde und ganz normalen Nachbarschaft, haben. Der Gründer, Pfarrer Hartmut Bartsch, bringt diese Idee 1975 nach Essen. So entstehen 1985 in Haarzopf die erste Wohngruppe für Bürger mit körperlichen Beeinträchtigungen und in Frohnhausen eine integrative Hausgemeinschaft. 1986 wird das Integrationsmodell Essen eigenständig.

„Derzeit erhalten fast 160 Personen in ihrer eigenen Wohnung oder in einer der 16 Wohn- oder Hausgemeinschaften Unterstützungsleistungen durch Mitarbeiter unterschiedlichster Professionen“, sagt Magdalene Merkel, zuständig für den Aufbau des Ehrenamts beim Integrationsmodell.

Die nächsten Stammtisch-Termine sind der 19. Oktober und der 16. November, jeweils von 18 bis 19.30 Uhr im ev. Gemeindezentrum an der Billebrinkhöhe 72.

Infos gibt’s unter 810 53 0 und auf www.im-essen.de.