Seit gestern gibt es eine neue Hochrechnung für den Süd-Wahlkreis 120: Petra Hinz (SPD) liegt 31 Stimmen vor Matthias Hauer (CDU). Fast möchte man darüber lachen, aber so langsam wird es dann doch zum Stück aus dem Tollhaus: Oberbürgermeister Reinhard Paß wird heute als Kreiswahlleiter für die Stadt Essen dem Kreiswahlausschuss vorschlagen, den Wahlkreis 120 noch einmal komplett auszuzählen – ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Stadt. Nachdem das Wahlamt alle 190 Wahlniederschriften der Wahlvorstände im hart umkämpften Süd-Wahlkreis überprüft und bei 23 Niederschriften „keine Plausibilität“ feststellen konnte, entschied man sich im Wahlamt dazu, die Wahlbezirke zu diesen Niederschriften nachzuzählen. Und siehe da: Plötzlich lag CDU-Kandidat Matthias Hauer nicht mehr mit unfassbar knappen drei Stimmen vor der SPD-Bundestagsabgeordneten Petra Hinz, sonder die Sozialdemokratin mit immerhin 31 Stimmen vor Hauer. „Wir sind auch einigermaßen überrascht“, sagte Stadtsprecherin Nicole Mause, die gestern die Fortsetzung des „Wahl-Krimis“ erklären musste. Der Oberbürgermeister habe nach dieser Überprüfung sofort die beiden Kandidaten, die Parteivorsitzenden von CDU und SPD sowie die Mitglieder des Kreiswahlausschusses informiert und seinen Vorschlag auf Neuauszählung des Wahlkreises begründet.

Und so werden sich wohl in einigen Tagen mehrere städtische Mitarbeiter daran machen, die Säcke mit den über 149.400 Wahlzetteln zu öffnen, sie erneut zu sortieren und auszuzählen, dies alles unter wachsamen Augen. „Mehrere Tage“ werde das dauern, heißt es bei der Stadt, nein, noch einen Fehler wolle man sich auf gar keinen Fall erlauben. Man ahnt: Essen erlangt mit dem Wahlkreis 120 republikweit nur noch peinliche Berühmtheit.

Denn auch die halbstündige Verspätung bei der Öffnung des Stimmlokals 805 an der Adelkampstraße könnte über die mediale Berichterstattung hinaus ein Nachspiel haben. Dass die Urne erst ab 8.27 Uhr zur Verfügung stand und laut Zeugenaussagen etwa 20 Essener Bürger da bereits abgezogen waren, zum Teil verärgert, diese Nachricht hat bereits den Bundeswahlleiter in Berlin erreicht. Man werde die Vorgänge in Essen prüfen, heißt es. Am Ende könnte der Neuauszählung in Essen auch noch eine Wahlwiederholung für das Wahllokal 805 folgen. Der Alptraum eines jeden Wahlamtsleiters setzt sich fort: Denn der bisherige Sieger im Süd-Wahlkreis, Matthias Hauer, sieht die Gefahr von „Manipulationen“: „Ich möchte wissen, wie der Oberbürgermeister sicherstellt, dass es dazu nicht kommt“, kommentierte Hauer leicht angesäuert. Während seine Kontrahentin, Petra Hinz, mit gewisser Genugtuung das erste Ergebnis der Überprüfung kommentiert: „Fehler sind natürlich menschlich, aber es geht mir vor allem um Klarheit.“ Wahrscheinlich auch um den SPD-Sieg im sonst sicheren Süd-Westen.

„Demokratie ist manchmal anstrengend“, kommentierte gestern Essens CDU-Fraktionschef Thomas Kufen die Vorgänge mit einem leichten Seufzer. „Aber wird sind gut beraten, in der Frage einen kühlen Kopf zu bewahren.“ Natürlich habe der Sieg im Süd-Wahlkreis eine hohe Symbolkraft, mehr aber dann auch nicht. „Ich glaube nicht, dass sich dadurch etwas an der Zusammensetzung des Bundestages ändern wird“, meint Kufen, Hauer werde dann eben über die Landesliste in den Bundestag einziehen, und selbst Rita Stockhofe aus Recklinghausen als Nachrückerin dürfte wohl ihren Platz behalten, so das Ergebnis einer ersten Überprüfung. Und in der Tat:

„Es würde sich personell in NRW nichts ändern, nur der Status der Abgeordneten wäre ein anderer“, heißt es aus dem Büro des Bundeswahlleiters in Berlin. Demnach habe die CDU dann einen Wahlkreis weniger, aber die Gesamtzahl würde gleich bleiben, „dadurch würde ein Listenplatz bei der CDU neu entstehen“. Nein, weiter wolle man aber die Vorgänge in Essen nicht kommentieren: „Wir prüfen.“ Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein.