„Ich zeige Ihnen jetzt den grünen Segeroth“, sagt Walter Wehner und erntet verwunderte Blicke. Der Begriff „Grün“ in Verbindung mit einem der verrufensten Essener Stadtteile - wie passt das zusammen? Passt schon, erfährt die 25-köpfige Gruppe, die sich mit dem Historiker und Schriftsteller Wehner auf den Weg durch ein fast verschwundenes Quartier macht. Wehner ist ortskundig, im Segeroth geboren und aufgewachsen, und kennt jede Ecke des einstigen „Nachtjackenviertels“.

Startpunkt der historischen knapp dreistündigen Tour ist der Berliner Platz, hinter dem sich einst das Arbeiterviertel erstreckte. „Weiß noch jemand, was dort mal stand?“, fragt Wehner und zeigt dabei auf die beiden Bürotürme neben dem Cinemaxx. Nur die Wenigsten in der Gruppe erinnern sich noch an das Krupp’sche Kaufhaus mit der legendären Wasserorgel. Hier stieg Wehners Mutter immer aus und lief zu Fuß nach Hause, „damit keiner in der Bahn mitbekam, dass sie im Segeroth wohnt“. In den heruntergekommenden Bauten lebten auch noch nach dem Krieg die Ärmsten der Armen, „zu denen wollte man nicht zählen“.

Wohnhäuser für Schlafgänger

Bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bezogen die Arbeiter, die unter Tage oder in den Krupp’schen Fabriken schufteten, den Segeroth. Wo sich heute die Universität erstreckt, lebten aber auch arme Ostjuden und Zigeuner unter primitivsten Bedingungen. Ein großer Teil der kasernenähnlichen Häuserblöcke gehörte einem Miethai: Der Bauunternehmer Piepenbrock wurde besonders durch seine Wohnhäuser für Schlafgänger reich. „Das waren Menschen, die in entgegengesetzten Schichten arbeiteten und sich ein Bett teilten“, erläutert Wehner. Ungehindert und städtebaulich ungeplant wuchs der Segeroth und entwickelte sich schnell zum „wilden Norden“ der Stadt. Doch er hatte auch eine andere, kleinbürgerliche Seite: Im katholischen Teil, rund um die Kirche St. Marien, sah man auf die „Klüngels-kerle“, die „Asozialen“, die Juden und „Zigeuner“ jenseits der heutigen Segerothstraße herab.

Letztere wurden während der Nazi-Diktatur gnadenlos verfolgt, deportiert und ermordet. Schon 1933 wurden die ersten Essener Juden und Sintis in Lager abtransportiert. Ihre Häuser machten die Nazis dem Erdboden gleich um, Raum für einen Exerzierplatz zu schaffen, der 1936 gebaut wurde. Aber es gab auch Widerstand: „Da vorne war mal ein Metzger, den haben die Nazis kurz vor Kriegsende noch aufgehängt, weil er Fleisch an die Falschen verkauft hat“, sagt Wehner. Er erinnert auch an die Familie Marquardt, die fünf jüdische Mädchen, die sich im Segeroth versteckt hielte, das Leben rettete.

Vom Leben und Sterben der jüdischen Bewohner zeugt heute nur noch der Friedhof am Assmannweg, der früher Reckhammerweg hieß. Er liegt, zwischen drei anderen ehemaligen Friedhöfen, mitten im grünen Segeroth. Ein verwunschener und ein verlassener Ort. Kein einziger Stein liegt auf den verwitterten Grabsteinen und Stelen, was als Zeichen der Ehre beim Besuch der letzten Ruhestätte üblich ist. „Es gibt keine Überlebenden mehr“, sagt Wehner. Als Kind hat er in der Nachkriegszeit ab und an Besucher gesehen. „manche kamen in Cadillacs und sprachen Englisch“. Jüdische Flüchtlinge auf Heimatbesuch in Essen.

Auch die anderen Friedhöfe sind aufgelasse, viele Grabsteine wurden bereits abgetragen oder verfallen. Nur ein paar ragen in den grauen Himmel: So wie die beiden Gedenksteine, die an die Toten zweier Bergwerksunglücke 1921 und 1922 erinnern. In dieser Art „vielleicht die letzten historischen Zeugnisse der Essener Bergbauzeit“, glaubt Wehner. Die letzte Etappe der Führung zeigt den Teilnehmern nochmal eine andere Seite des Segeroths: Hier stand mit der Tiegelschule eine der ersten Reformschulen Deutschlands. Doch auch sie ist bald Vergangenheit: Die heutige Grundschule wird in diesem Jahr geschlossen.